Kein Schreck, nirgends

Sicher um die Ecke gebracht: Am Berliner Ensemble will Claus Peymann mit Thomas Bernhards Dramoletten „Deutscher Mittagstisch“ den Neonazis den Garaus machen. Dabei erwischt er nicht die Leichen, die zurzeit wieder in deutschen Kellern zucken, sondern nur das eigene Theater

Zwei Frauen kommen aus der Kirche und finden im Wald etwas, das sie für einen Toten halten. Bald stellt sich heraus, dass sie es nicht mit einer Leiche, sondern einem Paket voller Naziplakate zu tun haben. Die Damen, von Gudrun Ritter und Therese Affolter hingebungsvoll (und in bayrischer Mundart) auf die karikaturistische Spitze getrieben, sind nicht etwa über deren Inhalt entsetzt, sondern über die Dummheit des Ehemanns der einen, der diese Plakate nämlich kleben sollte und offensichtlich unterwegs im Wald verlor.

Der vermeintliche Tote im Wald ist natürlich die nationalsozialistische Leiche, die der Kollektivdeutsche immer noch im Keller hat. Weil diese Leiche erst kürzlich in der Provinz wieder zuckte, als der hessische CDU-Abgeordnete Martin Hohmann eine ebenso dämliche wie antisemitische Rede hielt, hat Claus Peymann nun sechs Dramolette von Thomas Bernhard über den Horror in der Provinz, „Der Deutsche Mittagstisch“, auf den Spielplan gesetzt. Die Episoden handeln von alten Nazis, die ihre wahre Gesinnung hinter zugezogenen Gardinen und Staatsämtern verbergen.

Doch statt Thomas Bernhards anhaltende Aktualität zu demonstrieren, hat Peymann den österreichischen Dramatiker mit sicherem Griff um die Ecke gebracht. Vor einem Vierteljahrhundert, als Bernhards finstere Komödien in Peymann ihren kongenialen Inszenator fanden, waren die anständigen Bürger, an deren Fassade man nur etwas kratzen musste, um den alten Nazi dahinter freizulegen, ein verbreitetes Phänomen. Viele Würdenträger der Republik blickten auf eine Karriere in Nazi-Deutschland zurück. Mit leichter Hand und diebischer Freude ließ Thomas Bernhard den demokratischen Lack seiner Figuren platzen. Peymann inszenierte all dies mit Lakonie.

Im jüngsten Bernhard-Abend klingt nicht mal mehr ein Echo alter Schärfe nach: Zwei schrille Damen (Ilse Ritter, Carmen-Maja Antoni) im Dirndl, die wie Wetterfiguren aus einer Kuckucksuhr aussehen, sind mit einer Gruppe von Türken konfrontiert, die noch verkleideter aussehen als sie selbst. „Vergasen!“, brüllt eine von ihnen hysterisch. Aber kein Schrecken, nirgends. Bloß die Erkenntnis, dass auch Nazis längst zum pittoresken Figurenfundus deutscher Folklore zählen. In einer anderen Episode haben sich drei furchtbare Juristen und Massenmörder samt Gattinnen zum gespenstischen Dinner versammelt. Dabei denken sie an die schönen alten Zeiten. Traugott Buhre, Manfred Karge, Ilse Ritter und Carmen-Maja Antoni fügen sich gut ins schaurige Bild. Besonders Gudrun Ritter als zopfbekränzte brutale Naziheroine ist sehenswert.

Doch fern ist jedes Erschrecken vor diesen menschlichen Monstern. Peymann gibt sie dem Gelächter preis, was ihre Lage als Objekte politischer Demonstration nicht gerade einfach macht. Phänomene wie die Entgleisungen des CDU-Abgeordneten Hohmann lassen sich mit ihnen erst recht nicht erklären.

ESTHER SLEVOGT

Nächste Vorstellungen: 29. 12., 1. und 17. Januar, Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-Platz 1, Mitte