: Die Angst vorm anarchischen Rasen
Erst die Serie offenbart zum Klischee erstarrte Gleichförmigkeit: Der Hamburger Künstler Peter Piller, der Bilder aus Regionalzeitungen neu zusammenstellt, ist überzeugt, dass es im Fotojournalismus einen Konsens bezüglich der Abbildung von Ereignissen gibt. Ein Porträt
von Petra Schellen
Führte man diese Bilder irgendwelchen Saturnmännchen vor, sie würden kopfschüttelnd wegrennen. Würden denken, dass der Mensch doch noch nicht so reif ist, wie es individualistische Theoretiker vermitteln wollen. Oder sie würden erst gar nicht glauben, dass die Protagonisten echt sind. Denn eigentlich scheint kaum denkbar, dass sich irgendwer freiwillig für derart absurde Zeitungsfotos zur Verfügung stellt, wie sie der Hamburger Künstler Peter Piller – 2003 mit Hamburg-Stipendium, dem Recklinghausener Kunstpreis „junger westen“ sowie dem Albert-Renger-Patzsch-Preis geehrt – seit Jahren ausstellt und publiziert: Wie vom Himmel gefallenes Kleingetier wirken die Menschen auf einem Foto der Reihe Ortsbesichtigungen, die an einem Wasserlauf stehen. Einer trägt ein Trachtenjöppchen, ein anderer zeigt auf den zweiten Grashalm von links. Zwei haben Schnellhefter dabei – ein absurdes Utensil in wilder Wiese. Oder soll das Plastik der Mappen die künftige Verkünstlichung ebendieser Natur antizipieren? Möglich. Vielleicht aber auch huldigt – auf dem benachbarten Foto – die halbkreisförmig auf einem Feld aufgestellte Gruppe einer unsichtbaren Gottheit.
Choreographisch interessante Formationen bilden die Grüppchen, die Piller auf Regionalzeitungs-Fotos vorfand – und erst in der Serie offenbaren sie strukturelle Parallelen: Vom Versuch, das Nichts zu fotografieren, handelt zum Beispiel die Serie Tatorte: Belanglose Häuser, die – ihrer Bildunterschriften beraubt – Fürchterliches ahnen lassen. „Mich interessiert, wie man den Betrachter dazu bringen kann, etwas dazuzuphantasieren, wie leicht das zu steuern ist“, sagt Piller, der im winzigen Atelier in St. Pauli 6.000 Fotos sowie einen 12.000 Luftbilder umfassenden Firmennachlass hortet.
„Orte und die Art, sie darzustellen, haben mich schon immer gereizt“, sagt Piller, der, 1968 im hessischen Fritzlar geboren, seit 13 Jahren in Hamburg lebt. In einer Medienagentur arbeitet er für ein schmales Gehalt; dafür fällt ihm dort en passant jede Menge Material in die Hände. „Theoretisch kann ich immer noch Lehrer werden“, sagt Piller, der zunächst Geographie, Germanistik und Kunstpädagogik studierte, sich schließlich aber für ein Studium der Freien Kunst an der Hamburger Hochschule bei Franz Erhard Walther enschied. „Ich ziehe die Freiheit des Künstlerlebens vor.“ Samt aller Risiken, die er aber eher ironisch antippt – wie derzeit in der Ausstellung gegenwärtig: Feldforschung in der Hamburger Kunsthalle: Seine Koje heißt schlicht Kann man davon leben? „Ich sammle diese Dinge in erster Linie für mich selbst – und keineswegs so zielgerichtet, wie es scheint. Als ich das Luftbildarchiv aus dem Nachlass einer Firma – 12.000 Reihenhaus-Fotos aus den achtziger Jahren – bekam, habe ich zunächst nur diffus gewusst, dass mich daran irgendetwas interessiert.“ Drei Monate standen die Kartons und Hängeordner in Pillers Atelier, immer wieder hat er darin gestöbert. Irgendwann ist er fündig geworden, hat wiederkehrend absurde Gartengestaltungen entdeckt, die erst sichtbar wurden, als er sie nebeneinander hängte: Pfade heißt eine Serie, die es inzwischen auch in Buchform gibt. Der Inhalt: Gartenwege, die kreuzweise, tangential oder ellipsenförmig um das Haus herumführen, ihr Ziel aber nie direkt ansteuern. Ein ungeheurer Gestaltungswille offenbart sich hier, vielleicht auch die Angst vor dem anarchisch zertrampelbaren Rasen.
Klingt stark nach Bürgertumskritik, all das, auch das Eigenheim-Motiv – aber Piller wiegelt ab: „Ich will nicht die Welt missionieren.“ Er wolle lediglich auf einen Konsens in Gestaltung und Abbild hinweisen. Dabei interessiere ihn aber nie das makellose Agentur-Foto, sondern das leicht verunglückte, individuelle, wie es nur noch in kleineren Regionalzeitungen zu finden sei. „Agenturbilder sind geglättet, einförmig und todlangweilig.“
Lächerlich überblendete Fotos von Feuerwehrleuten mit überirdisch strahlenden Streifen hat Piller stattdessen zur Serie Regionales Leuchten zusammengestellt, auch Bilder mit absurden Lichtpunkten, die in keinem Zusammenhang zum Bildthema stehen. „Im Zeitalter der Aurafotografie steht es natürlich jedem frei, solche Dinge religiös zu deuten“, sagt Piller. Und weicht, auf seine eigene Religiosität befragt, sofort zurück. Er möchte nur als Künstler sprechen. Der Draufblick ist es, der ihn interessiert, Abgrenzung scheint für ihn Elixier.
Als Künstler hat er in den Neunzigern auch das Ruhrgebiet und Hamburg umwandert, hat eine subjektive Kartierung durchgeführt, wenn er Peripherien erkundete. Fotos, Texte und Zeichnungen sind Resultat dieser Wanderungen. Und man manchmal hat er, das zeigen auch seine Zeitungsfoto-Serien, künstlerische Zufallsprodukte entdeckt: Vandalismus heißt eine Serie – und wer wollte sagen, ob nicht ein weiser Riese den Hochsitz so umgekippt hat, dass er wie ein Wegzeichen wirkt? Und Piller? Hat einfach den Kontext umgekippt, der Künstler, der ausdrücklich „kein Sammler“ ist, sondern mit Material arbeitet. Er reagiert unwirsch, wenn man nach soziologischer Zielrichtung fragt. „Nur weil ich mit vorgefertigtem Material arbeite, muss ich ständig erklären, was ich tue“, ereifert er sich. Er intendiere – gar nichts. Und deuten könne, wer wolle, das Resultat: „Mehrere Bekannte haben mich nach dem letzten ,Tatort‘-Krimi angerufen, weil das Schlussbild ein Reihenhaus in derselben Perspektive zeigte wie meine Luftbilder. Das beweist doch, da hat jemand die zum Klischee erstarrte Art, Dinge abzubilden, bemerkt. Denn es scheint im Fotojournalismus Absprachen darüber zu geben, wie Dinge abzubilden sind: Welche Distanz halte ich zu einem Tatort-Haus, aus welchem Winkel fotografiere ich?“ Weiteres Thema: „Wie geht der Fotograf mit der absurden Situation um, das Nichts zu fotografieren?“ fragt Piller. Zum Beispiel in der Serie Noch ist nichts zu sehen: Irgendwann zu bebauende Feld-, Wald- und Rasenstücke sieht man hier, Pieter Brueghels Gemälden gleichende Dörfer mit Schafen, die bald dem Bolzplatz weichen sollen. Verzweiflung hat hier ganz subtil eine neue Variante der Naturfotografie geboren, die sich – unter Beachtung von Fluchtpunkt und Goldenem Schnitt – an den Gesetzen der Landschaftsmalerei orientiert. Muss überhaupt alles abgebildet werden, fragen solche Bilder. Was treibt diese Gesellschaft, vage Kopfgeburten abzubilden? Wie weit reicht der Zwang zum Foto, das doch angeblich die Wahrheit sagt? Oder soll durch konformistische Darstellungsmodi etwa jener Bebauungsorte der Durchschnittsbürger dazu gebracht werden, in jeder Blumenwiese potenzielles Bauland zu sehen?
Fragen, die Piller sämtlich abwehrt. Dabei zeigen seine Serien deutlich, dass längst auch das Motiv Mensch vereinnahmt und verkommen ist: Welchen dokumentarischen Wert hat etwa das Bild eines Rentners, der mit dem frisch gewonnenen Tausender winkt? Man weiß es nicht, aber tröstlich ist immerhin eins: dass der Fotograf dem Gewinner das im Hintergrund hängende Bild direkt an die Backe geklebt hat. So, als habe der Reporter ganz leis Rache geübt für den absurden Auftrag, indem er einfach das Motiv verschandelte.