Die Soziologie der Selbstzerfleischung

Vom Augenblick, in dem der Gesellschaftsvertrag aufgekündigt wird: Der Regisseur Michael Hanekes möchte sein Publikum verstören. Darum sucht er in seinen Filmen nach den Resten vorzivilisatorischen Verhaltens, die er in seinen Figuren zu Tage fördert. So auch in seinem neuen Spielfilm „Wolfzeit“

von CRISTINA NORD

Der Wald ist ein Gefängnis. In der Breite und in der Tiefe des Bildes reihen sich Baumstämme auf wie Gitterstäbe. Dazwischen rollt ein Wagen, einer von der Sorte, die Militärjeep und Familienlimousine in einem sein wollen. Vielleicht fühlen sich die, die drinnen sitzen, wie der Panther in Rilkes Gedicht. Als ob es tausend Stäbe gäbe, und hinter tausend Stäben keine Welt.

Es trifft sich, dass hinter den tausend Stämmen tatsächlich keine Welt liegt, in der man sich einrichten könnte. „Wolfzeit“, der neue Film des österreichischen Regisseurs Michael Haneke, hat den Ausnahmezustand verhängt. Was sich wie ein Familienausflug in herbstliche Landschaft anlässt, führt in ein Niemandsland, in dem der Nebel und die Dunkelheit die Sicherheiten zivilisierten Umgangs schlucken. Gleich in der Eröffnungssequenz wird ersichtlich, dass ein Menschenleben nicht viel zählt. Kaum ist die Familie in ihrem Wochenendhaus angekommen, stellt sich heraus, dass dort schon eine andere Familie Unterschlupf gefunden hat. Es kommt zum Wortwechsel und, während die Kamera auf dem Gesicht des Fremden verharrt, zum Schuss. Nach dem Schnitt sieht man nicht etwa den toten Vater, sondern die Kinder Eva (Anaïs Demoustier) und Ben (Lucas Biscombe), die draußen am Auto stehen; danach das Gesicht von Anne, der Mutter (Isabelle Huppert): Es versteinert, bevor es sich im Erbrechen entlädt.

In „Wolfzeit“ gilt das Recht des Stärkeren. Warum das so ist, bleibt im Dunkeln. Herrscht Krieg? Oder Bürgerkrieg? Hat sich eine Umweltkatastrophe ereignet? Hinweise gibt es, zu einer Kausalkette jedoch lassen sie sich nicht auffädeln. „Die Fragen, die der Film stellt, werde ich sicher nicht beantworten“, sagt Haneke, als er vier Journalisten zum Interview in Cannes empfängt.

Haneke ist 51 Jahre alt, sein Haar und der Vollbart sind von dem Grau, das leuchtet, und so freundlich er sein mag, seine Sätze haben etwas Entschiedenes. Interpretation macht „den Film kaputt“. Und er mag es ja selbst, wenn ihn das Kino verstört, ohne dass die Verstörung in irgendeiner Form aufgefangen würde. „Die Filme, die mich weitergebracht haben, waren immer Filme, die mich verunsichert haben. Entweder war ich wütend, oder ich war geschockt. Dann hat das gearbeitet, und vielleicht habe ich den Film drei Wochen später ganz anders gesehen, weil da zuerst einmal eine Abwehrreaktion war: ‚Was will der Trottel, warum tut er mir das an?‘ “

Es gibt gute Gründe, in Haneke einen Freund des Affronts zu sehen. In „Die Klavierspielerin“ (2001), der Verfilmung von Elfriede Jelineks gleichnamigem Roman, malträtiert die Protagonistin Erika Kohut (Isabelle Huppert) ihre Vagina mit der Rasierklinge, ohne dass der Plot die erschreckende Evidenz der Szene milderte. Und in „Benny’s Video“ (1992) erschießt ein 15 Jahre alter Schüler eine Gleichaltrige, nachdem sich die beiden ein Video angeschaut haben, in dem ein Schwein getötet wird. Benny, der Junge (Arno Frisch), spult das Band vor und zurück, mal zeigt er es in Normalgeschwindigkeit, mal in extremer Zeitlupe. Warum er kurz darauf selbst zum Bolzenschussgerät greift, bleibt offen. Zwar sagt er später, „weil ich wissen wollte, wie es sich anfühlt“. Da er dabei mit den Schultern zuckt und den Satz ausspricht, als probierte er ihn nur, sollte man ihm nicht allzu viel Glauben schenken.

Wichtiger als Erklärungen und Gründe ist für Haneke denn auch der Augenblick, in dem einer, obwohl er sich doch eben noch ganz normal verhalten hat, den Gesellschaftsvertrag kündigt. Er hat die Möglichkeit, einen anderen zu verletzen, und er nutzt sie aus – ganz so, als schlummerte ein Rest von Gewalttätigkeit in jedem Menschen; ein Residuum vorzivilisatorischen Verhaltens, das nur auf den richtigen Anlass wartet, um ans Tageslicht zu drängen. Hitze entsteht dabei nicht: Hanekes Figuren bleiben kühl und unbeteiligt, gleich welche Scheußlichkeiten sie sich oder anderen zufügen.

Was ist das Reizvolle daran? „Film lebt von der Extremsituation“, antwortet Haneke. „Über die Extremsituation ist die Normalsituation leichter beschreibbar. Außerdem: So extrem ist die Situation gar nicht. Wenn Sie sich vorstellen, was in dem Film passiert, dann lebt mehr als die Hälfte der Menschheit unter schlimmeren Bedingungen. Das dürfen wir nicht vergessen. Der Unterschied zu Katastrophenfilmen oder zu Dokumentationen über die Dritte Welt besteht lediglich darin, dass ‚Wolfzeit‘ unser Ambiente – sprich das Ambiente der hochindustrialisierten Länder – benutzt, um die Sache näher an uns heranzurücken.“

Als „Wolfzeit“ im Mai in Cannes gezeigt wurde, waren die Reaktionen verhalten. Kein Wunder: Filme, nach denen man sich fragt, warum der Regisseur einem so etwas antut, haben es ohnehin nicht leicht; in der Hektik eines Festivals gehen sie unter. Auch ich notierte damals, „Wolfzeit“ leide an seiner „bekannten Geschichte: Man hat sie zu oft gesehen, die Dynamiken, die in einer Menschengruppe vor dem Hintergrund diffuser Bedrohung entstehen, die Selbstzerfleischung im isolierten Raum.“ Hanekes Konstellation wirkt so vertraut, weil sie an den Katastrophen- oder den Horrorfilm erinnert. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die menschlichen Figuren in George A. Romeros „Die Nacht der lebenden Toten“ etwa reagieren angesichts der Bedrohung durch die Zombies kaum anders als die Figuren in „Wolfzeit“. Nachdem etwa ein Drittel des Filmes verstrichen ist, versammeln diese sich in einem Depot an einem Bahndamm, um dem diffusen Feind gemeinsam zu trotzen; jene verbarrikadieren sich in einem abgelegenen Haus. Die Konflikte und Abläufe innerhalb der Gruppen gleichen sich – bis hin zum Rassismus, der sich sowohl bei Romero als auch bei Haneke umso hartnäckiger artikuliert, je höher der Druck ist, der auf der Gruppe lastet.

Doch lässt man „Wolfzeit“ eine Weile wirken, zeigt sich, wie weit der Film über den genretypischen Umgang mit der Extremsituation hinausweist. Dies liegt vor allem an der Subtilität der mise en scène. Haneke versteht sich darauf, Bilder zu komponieren: Allein in der Art, wie er die Totalen von Feldwegen und Landstraßen montiert, stellt sich diese Fähigkeit unter Beweis. Er weiß, wie er Bildachsen und Linien anordnet und wie er mit Stillstand und Bewegung umgeht. Am deutlichsten tritt diese visuelle Gestaltungsgabe im Umgang mit dem Licht zu Tage: Obwohl „Wolfzeit“ auf künstliche Lichtquellen verzichtet, geraten die Einstellungen erstaunlich präzise. Ein so virtuoser Umgang mit Dunkelheit ist im Kino selten zu sehen.

Zudem weiß Haneke, wie er die Schauspieler zur nuancenreichen Darbietung treibt. Als etwa Ben im schummrigen Licht eines Heuschobers seinen Wellensittich aufbahrt, fängt die Kamera von schräg hinten den Kopf der Mutter ein. Die linke Wange und der Hinterkopf sind zu sehen, die Augen nicht. Auf der Wange ist eine Träne: die erste, wenn auch sehr verhaltene Äußerung eines Gefühls, die Huppert ihrer Figur gestattet. Noch in derselben Nacht wird Ben verschwinden, und als Anne und Eva ihn in der Dunkelheit suchen, erlischt im Bildvordergrund die einzige Lichtquelle, eine Strohfackel. Eine Sekunde verstreicht, und im Bildhintergrund scheint ein anderes Feuer auf. In derselben Szene vermuten Mutter und Tochter schließlich, dass ein Fremder in der Nähe sei. Zwar ist niemand zu sehen oder zu hören, doch wird man den Eindruck nicht los, die Anwesenheit eines Dritten wahrgenommen zu haben.

Auch dabei geht es Haneke darum, zu beunruhigen: „Wenn Ihnen jemand nachts auf einer beleuchteten Straße entgegenkommt“, sagt er, „nun, dann kommt Ihnen halt jemand entgegen. Wenn Ihnen aber in einer unbeleuchteten Straße jemand entgegenkommt, ist er automatisch eine Bedrohung. Und das ist der Zustand, in dem die Figuren in ‚Wolfzeit‘ permanent sind; das sollte nachempfindbar gemacht werden.“

„Nachempfindbar“: Das ist ein Schlüsselbegriff in Hanekes Ausführungen. Der Regisseur will, dass das Publikum nachempfindet, was im Film geschieht. Er will, „dass die Leute frustriert aus dem Kino kommen“. Statt sich in der Fiktion gemütlich einzurichten, sollen sich die Zuschauer in „Wolfzeit“ so unbehaglich fühlen wie Anne, Eva und Ben in den verlassenen Weilern, die sie durchstreifen. Selbstredend hat eine solche Haltung etwas Anmaßendes: Denn in welche Position begibt sich der Regisseur, wenn er meint, sein Publikum vor den Kopf stoßen zu müssen?

Der Film wandert auf schmalem Grat. Wenn er nicht abstürzt, so hat das nicht nur mit Hanekes ästhetischer Virtuosität zu tun, sondern auch damit, dass es „Wolfzeit“ gelingt, das endzeitliche Szenario und den dazugehörigen Kulturpessimismus zu überwinden. Der Film verschreibt sich gerade nicht der These, die Menschen würden einander zu Wölfen, sobald das Zivilisationsgerüst ein wenig wackelt. Im Gegenteil: Die Figuren sind zu einer breiten Spanne von Verhaltensformen fähig. Manche bereichern sich, manche vertrauen dem Faustrecht, andere versuchen in der Auflösung Ordnung zu stiften. Es gibt sogar die, die der Mangelökonomie zum Trotz Großzügigkeit an den Tag legen. „Wolfzeit“ setzt dieses Panorama des Sozialen so nuancenreich in Szene, dass man sich am Ende fragen muss, ob nicht Hobbes irrte, als er die Wolfsmetapher schuf. Denn auch Wölfe sind soziale Wesen.