: Die Kaiser-Gesellschaft
VON JÖRN KABISCH
Angst ist ein schlechter Verkäufer, heißt eine Faustregel in der Versicherungsbranche. Wegen der Aussicht auf eine Katastrophe gibt niemand Geld aus. Hoffnung auf Glück zieht besser. Stimmte diese Regel, müsste es den Assekuranzen ziemlich schlecht gehen. Denn nie war die Stimmung so schlecht wie heute – zu diesem Ergebnis kommt wenigstens eine Studie der R+V-Versicherung.
In diesem Jahr ist die Furcht vor Terroranschlägen noch einmal gewachsen und längst größer als nach dem 11. September 2001, sagen die Wissenschaftler, die für die R+V seit 1991 die deutsche Seelenlage erforschen. Gestiegen ist auch der Pessimismus, was die wirtschaftliche Lage angeht, den eigenen Arbeitsplatz und die Furcht, den Lebensabend ohne Geld zu verbringen. Ängste vor steigender Kriminalität sind dagegen in den Hintergrund gerückt. Gleichzeitig werden die Ängste insgesamt den Menschen stärker bewusst. Auf einer Skala von null („gar keine Angst“) bis sieben („sehr große Angst“) geben die Befragten durchschnittlich 4,42 an. So hoch war der Wert in den vergangenen zwölf Jahren noch nie.
Eigentlich also keine gute Zeit, um Versicherungen zu verkaufen. Dennoch, der Branche ist es in diesem Jahr gelungen, sich „vom widrigen ökonomischen Umfeld abzukoppeln“, wie der Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) rückblickend für 2003 feststellt. Um 4 Prozent ist der Sektor gewachsen, wobei nicht nur die Beiträge gegenüber 2002 gestiegen sind, sondern auch weniger Schäden beglichen werden mussten. Und auch für das kommende Jahr ist der Branchenverband optimistisch. Er erwartet endlich den Stimmungsumschwung, was die private Altersvorsorge, sprich Riester-Rente angeht, und prophezeit auch den privaten Krankenversicherern ein hervorragendes Geschäftsjahr mit rund 5 Prozent Beitragswachstum.
Die Assekuranzen wissen inzwischen offenbar, wie sie die Ängste ihrer Kunden packen. Die versichern sich nämlich trotz allem gern. Im vergangenen Jahr gaben die Haushalte durchschnittlich mehr als 10 Prozent ihres Einkommens für Versicherungen aus, pro Kopf rund 1.500 Euro. Nur wenige zahlen noch mehr, darunter die Engländer, Japaner und Amerikaner. Das allerdings liegt daran, dass in diesen Ländern die Altersvorsorge fast vollständig privatisiert ist. In Deutschland ist es dagegen die Liebe zum Rundum-Sorglos-Paket, die dazu führt, dass sich die privaten Beiträge auf über eine Milliarde Euro im Jahr summieren. Und das, obwohl der unüberschaubare Dschungel aus Anbietern und Tarifen verunsichert. Um im Bedarfsfall nicht leer auszugehen, schließen viele zu teure und nicht bedarfsgerechte Verträge ab. Deshalb mahnen inzwischen nicht nur Verbraucherverbände wie der Bund der Versicherten, sondern auch die Politik: Ihr seid falsch und überversichert.
Als ob die Deutschen das nicht wüssten. Auch unter Verbrauchern ist der Verdruss über das Assekuranzwesen groß. Doch sie haben sich ein ganz eigenes Objekt ihrer Missgunst gesucht: die Versicherungsvertreter. Es ist eine seltsame Hassliebe, die die Couch-Beziehung zwischen Versichertem und Vertreter bestimmt. Die Außendienstler sind nämlich nach wie vor die wichtigsten Männer am Kunden. Frau Kaiser gibt es fast keine. Nur 7 Prozent der Vertriebsmitarbeiter im Versicherungswesen sind weiblich, da hat sich seit zehn Jahren kaum etwas verändert.
400.000 sind es, die derzeit täglich in deutschen Sitzgarnituren Platz nehmen, Prospekte zeigen und die persönliche Sicherheitsstrategie der Kunden besprechen. Unabhängig sind dabei nur die wenigsten, sie vertreten eine oder mehrere Versicherungen, und weil sie vor allem von Provisionen leben, raten sie nur zu selten dazu, eine Versicherung nicht zu unterschreiben. Noch immer tätigen die Außendienstler 90 Prozent der Abschlüsse, und daran wird sich auch in den nächsten Jahren wenig ändern. Im Gegenteil: Der Arbeitsmarkt wächst sogar. Erst Anfang diesen Jahres hat beispielsweise die Hamburg-Mannheimer 10.000 Mitarbeiter für den Außendienst eingestellt. Zwar wächst das Internetgeschäft auch in dieser Branche, die Verbraucher nutzen Online-Angebote aber vor allem, um sich zu informieren und zu vergleichen, bevor der nette Herr von der Versicherung auf der Matte steht.
Obwohl es bei den Gesprächen im Wohnzimmer nicht um einen billigen Staubsauger geht, sondern vielleicht um zwanzig Jahre sorgenfreies Leben nach der Pensionierung: Die Menschen trauen den Versicherungsvertretern so wenig wie einem Hausierer. Der Berufsstand hat ein Mitleid erregendes Image. Immer wieder fragen Meinungsinstitute wie Emnid oder Allensbach das Prestige der Berufsstände ab. Oben halten sich die Ärzte, am unteren Ende stehen die Versicherungsvertreter. Sie bekommen in etwa die gleichen Noten wie Finanzbeamte. Und beide Berufsstände können von Glück sagen, dass die Umfrageinstitute vor einigen Jahren auf die Idee gekommen sind, auch nach dem Status der Gewerkschaftsbosse zu fragen. Die haben inzwischen das Schlusslicht übernommen.
Mit dem Imageproblem plagen sich die Versicherungsvertreter schon seit 150 Jahren. So lange gibt es diesen Berufsstand, der die Ware persönliche Sicherheit bewirbt und verkauft. Es gab Bedarf in den unsicheren Zeiten nach der Revolution von 1848, und es gab genug arbeitslose Lehrer, Militärs oder Kaufleute, Handwerker oder Bauern, die sich als Glücksritter in der neuen Branche versuchen wollten. Die eingesessenen Versicherungsmakler waren entsetzt. Noch zu Zeiten des Biedermeiers gehörten sie einem hoch geachteten Stand an. Sie arbeiteten lange Zeit so, wie es heute nur noch ein Notar zu tun pflegt. Sie erhielten Hausbesuche. Zu werben war ihnen kaum erlaubt. Zumeist waren es lokale Honoratioren, deren Reputation alles galt, ihr Verkaufstalent nichts. Fürsten schickten Droschken, um die Agenten in ihre Gemächer zu bringen, oder mussten sich selbst auf den Weg machen, wie bei der englischen Assekuranz „Equitable“. Dort musste noch im 19. Jahrhundert jeder vor den Vorstand treten und eine Police beantragen. Bekam er sie, wurde er dafür aber auch mit Handschlag und den Wünschen für ein langes Leben entlassen.
Das Biedermeier im Versicherungswesen beendeten die wirtschaftlichen Wirren nach dem Vormärz, wohl aber nicht das Biedermeier in den Köpfen. Versicherungspolicen fanden starken Absatz. Zeitgenossen schildern, dass die Agenten sich nun nicht mehr scheuten, „ungerufen in die Häuser zu rücken“, mit „spottbilligen Prämien“ zu arbeiten und „groß gedruckte, prahlerische Plakate in Schnaps- und Bierschenken anzuschlagen“. Es war die Gründerzeit der deutschen Versicherungswirtschaft. Während es in Preußen 1848 knapp 3.000 Verkäufer von Feuerversicherungspolicen gab, waren es sieben Jahre später etwa doppelt so viele. Unter der Bevölkerung sank ihr Ansehen rapide. Das Hausierverbot wurde rigoros auf den Berufsstand angewendet, und 1900 wurde ein Satz des Bühnendichters Otto Erich Hartleben zum geflügelten Wort: In der Offizierstragödie „Rosenmontag“ lässt er den am Ende scheiternden Held sagen: „Ich könnte es ja noch als Versicherungsagent versuchen, aber dann jage ich mir lieber gleich eine Kugel durch den Kopf.“ Das tut er dann auch.
Der schlechte Ruf hat sich gehalten. Nur einer ragt aus der Masse der Vertreter hervor. Seine Versicherung, die Hamburg-Mannheimer, ist darauf mächtig stolz. Und ihr Marketing achtet auch peinlich darauf, dass er nicht mit dem Wald-und-Wiesen-Außendienstler in einen Topf geworfen wird. Sein Name: Kaiser. Günter Kaiser. Natürlich eine Kunstfigur. Seit 1972 gibt es ihn, und seitdem ist der Kundenberater kein bisschen älter geworden, eher jünger. Drei Schauspieler haben ihn bislang verkörpert, der letzte, der ehemalige Surf-Star Nick Wilder, hat es durch diese Rolle sogar zur Semiprominenz in den Illustrierten gebracht. All das erinnert von der Zusammensetzung her an einen Agenten seiner Majestät. Und ein Star ist Herr Kaiser von der Hamburg-Mannheimer auch. Er übertrifft an Bekanntheit die meisten Spitzenpolitiker. Drei Viertel aller Deutschen sagen Hamburg-Mannheimer oder mindestens Versicherung, wenn sie seinen Namen hören. Er ist akkurat, redlich und zuverlässig. Er transportiert Vertrauen und Zuverlässigkeit. Er ist ein Wunschbild genauso wie ein Trugbild.
Damit sich Anspruch und Wirklichkeit annähern, hat sich nun Brüssel eingeschaltet. Bis 2005 muss eine EU-Richtlinie zum Außendienst von Versicherungen in nationales Recht umgesetzt werden. Ab dann dürfen Policen nur noch von besonders qualifizierten Personen verkauft werden. Ihr Beruf wird erlaubnispflichtig, sie werden in ein auch über das Internet erreichbares Zentralregister eingetragen, und sie brauchen bald einen Gewerbeschein und müssen einen guten Leumund nachweisen und einen Haftungsschutz von 1,5 Millionen Euro. Ein entsprechender Gesetzentwurf der Bundesregierung wird in diesen Tagen erwartet. Die Hoffnung der Politik: dass die Deutschen eine Angst verlieren, die vor dem Vertreter.