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Archiv-Artikel

Die Achse der Weihnacht von Tobias Rapp Lieder aus dem Goldenen Zeitalter

Es gibt kein amerikanischeres Fest als Weihnachten, schrieb Phil Spector 1963 in die Liner Notes seines „Christmas Album“, der bis heute unübertroffenen Weihnachtsplatte. Ein religiöses Fest in einer säkularen Welt. Rund um die Feier der familiären Geborgenheit gruppieren sich all die Probleme des Lebens im Spätkapitalismus: die Sinnsuche, mit der man der transzendentalen Obdachlosigkeit zu begegnen sucht, Konsumterror, dem man aus dem gleichen Grunde frönt.

Da Familienfeiern ja immer zu großen Anteilen in der Vergangenheit spielen, bietet es sich auch für Weihnachtsmusikplatten an, sie mit Musik aus dem Goldenen Zeitalter des Pop zu bestücken: den Sechzigern. „Snow 2 – The Get Easy Christmas Collection“ ist der zweite Teil einer im vergangenen Jahr begonnenen Reihe, die sich dieser Aufgabe widmet. Da gibt es zum einen die Stücke wie etwa Bing Crosbys „ A Time To Be Jolly“ oder Peggy Lees „Happy Holiday“, die durch ihre Big-Band-Arrangements jene Bilder aufrufen, die Hollywood in das Unbewusste der gesamten westlichen Welt eingebrannt hat: glückliche Paare, die geschenkebepackt über eine verschneite Fifth Avenue laufen. Oder Soul – ein Genre, das sich durch seine Verschränkung von Heiligem und Profanem wie kein zweites für Weihnachtssongs eignet. Herzzerreißend besingt Marvin Gaye in „I Want To Come Home For Christmas“ von 1972 die Leiden eines Kriegsgefangenen, der sich in der feuchten Hitze Vietnams nach Schneetreiben sehnt.

„Snow 2 – The Get Easy Christmas Collection“ Universal

Hasselhoffs Jingle Hell

Weihnachten ist da, wo es wehtut. Zu keiner Zeit des Jahres häufen sich familiäre Katastrophen zu ähnlichen Unglücksclustern wie zwischen den Jahren. Wenn man seine Familie umlegt, dann unterm Weihnachtsbaum. Das ist auch ganz verständlich, denn Weihnachten ist das Fest, an dem alle Menschen versuchen, der Welt ein wenig Wärme abzugewinnen, aber da, wie Schopenhauer schrieb, wir in der Kälte alle kleine Igel sind, die sich aneinander kuscheln, geht das nicht ohne einiges Gepikse. Je näher man sich kommt, desto schmerzhafter.

Dieser Zusammenhang zwischen Schmerz und Verlangen nach Geborgenheit wird auf keine Weihnachtsplatte so deutlich wie auf „The Night Before Christmas“ von David Hasselhoff, jene Geißel der Menschheit, die zwar überall auf der Welt als Schauspieler, jedoch nur in Deutschland als Sänger bekannt ist. Jedes Stück ist durchdrungen von einem authentischen Bedürfnis nach falschen Gefühlen. Das ist mal trashig, wenn Hasselhoff im Booklet etwa als Weihnachtsmann mit dem Surfbrett unterm Arm posiert. Mal ist es traurig, wie in seiner zur akustischen Gitarre eingesungenen Version von „White Christmas“, die einen in ähnlicher Gefühlslage zurücklässt wie die Musik der Kelly Family: In der Kaputtheit der Musik spiegelt sich die Kaputtheit der Sehnsüchte. Wenn er „Stille Nacht, Heilige Nacht“ singt (auf Deutsch!) kreieren die Streicher und das Fender Rhodes Piano genau jene Oberfläche, unter der sich das weihnachtliche Grauen versteckt.

David Hasselhoff: „The Night Before Christmas“. Edel

Digitales Kaminfeuer

Weihnachten unterhält intensive Beziehungen zu fast jedem musikalischen Genre, auch zum HipHop etwa: von Kurtis Blows wunderbarem „Christmas Rappin’ “ über Derek Bs großartiges „Chillin With Santa“ (das mit den Zeilen „Listen up everybody it’s christmas time / Time for me to recite a brand new rhyme“ anfängt) bis zu der alljährlich neu aufgelegten legendären „Christmas On Death Row“-Compilation, die mit Snoop Doggs „Santa Claus Go Straight to the Ghetto“ beginnt. Auch im Reggae fanden sich genügend Stücke, dass das Trojan-Label im vergangenen Jahr eine wunderbare Compilation mit Stücken wie „Santa Claus Is Ska-ing to Town“ zusammenstellen konnte.

Was es tatsächlich nicht gibt, sind Techno-Adaptionen von Weihnachtsliedern. Dafür hat das Kontorlabel, eigentlich für bolzenden Trance bekannt, sich daran gemacht, zwei Weihnachts-Ambient-Platten zusammenzustellen: „Christmas Chill“. Da säuseln die feinen Downtempo-Flöckchen vom Himmel, Frauenstimmen hauchen „White Christmas“ über sanfte Sythnie-Flächen, und „Jingle Bells“ kommt einem hier im Drum-’n’-Bass-Mix angesänftelt – genug Watte, um alle Familienstreitereien doppelt einzupacken. Diese Musik hat ein ähnliches Verhältnis zur Temperatur wie die „Christmas Chill 2“ beigelegte DVD, die zu einem DJ Mix 74 Minuten lang Kaminfeuer zeigt: Trotz der eingestreuten Spurenelemente von Reggae ist die Wärme sicht-, aber nicht spürbar.

„Kontor Christmas Chill“ und „Christmas Chill 2“. Kontor