: Purismus und Präzision
BETON Für die einen ist Beton der Inbegriff architektonischer Geschmacksverirrung. Für die anderen Eleganz und Präzision pur. Diese Qualitäten haben dem Baustoff nun das Tor zur Innenarchitektur geöffnet
VON JAN LUBITZ
Wie kein anderes Material ist Beton der Baustoff der Moderne. Er hat die Architektur des 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt, ist formbar und flexibel und findet in allen Bereichen des Bauens Anwendung. Aber er hat mit seiner charakteristischen, grauen Farbe auch einen hässlichen Ruf. Zurecht? Es gibt eine hartnäckige Fangemeinde, die nicht nur mit Beton baut, sondern ihn auch unbekümmert zeigt.
Beton ist ein Kunstprodukt aus Zement, Kies und Stahl, der ihm als Einlage, als „Bewehrung“, Stabilität verleiht. Diese Heterogenität unterscheidet Beton von natürlichen Baustoffen. Während Holz, Eisen oder Backstein handwerklich gefügt werden müssen, kann man Beton nahezu beliebig formen. Dadurch eignet er sich auch für architektonische Fantasien. Das Mercedes-Benz Museum in Stuttgart, das Phaeno in Wolfsburg oder auch die Elbphilharmonie in Hamburg wären ohne Beton wohl kaum denkbar.
Angesichts dieser Vereinnahmung des Betons durch die Moderne überrascht die lange und vielfältige Geschichte des Baustoffs. Bereits im Alten Rom wurde mit „opus caementitium“ gebaut, das aus Kalkmörtel und Bruchsteinen bestand und beim Bau epochaler Werke wie dem Pantheon oder dem Kolosseum verwendet wurde. Mit dem römischen Reich ging jedoch auch das Wissen um diese Bautechnologie verloren und wurde erst gegen Mitte des 18. Jahrhunderts wiederentdeckt. Pioniere wie der Gärtner Joseph Monier, der sich 1867 Einlagen aus Drahtgeflecht für die Herstellung von Blumentöpfen patentieren ließ, entwickelten die Grundlagen des heutigen Stahlbetonbaus.
Für den Bauboom der späten Kaiserzeit kam der Stahlbeton genau zur rechten Zeit. In Industriehallen und modernen Büro- und Geschäftshäusern bildete er das konstruktive Skelett. Verkleidet wurde das dann jedoch mit steinernen Fassaden. Beton war noch nicht gesellschaftlich repräsentabel.
Erst das „Neue Bauen“ der Weimarer Republik, das Ehrlichkeit als architektonischen Wert entdeckte, traute sich zögerlich, den nackten Beton auch in der Fassade zu zeigen, auch wenn dann doch meist ein Verputz bevorzugt wurde, der die abstrakte Wirkung der kubischen Kompositionen besser zur Geltung kommen ließ.
Beton wird überwiegend als orthogonales System von Stützen und Balken verwendet. Erst gegen Mitte des 20. Jahrhunderts entdeckte die Architektur eine weitere Eigenschaft des Baustoffs, seine plastische Formbarkeit. Mit der Oper in Sydney oder dem Kongressgebäude in Brasilia entstanden Flächentragwerke von poetischer Anmut und symbolhafter Wirkung. In Europa eröffnete der Architekt Le Corbusier dem Beton neue ästhetische Dimensionen. Sein „béton brut“, der roh belassene Beton, wurde zum Namensgeber des „Brutalismus“, der mit sichtbar belassenen Schalungsfugen das Bild moderner Architektur prägte. In ähnlicher Weise experimentierte man bei Fertigteilen mit Kieselstein-Oberflächen, dem Waschbeton.
Es ist gerade dieses ästhetische Erbe, dieser ruppige Charme der Bürokästen und Bettenburgen der 1970er Jahre, der den Beton bis heute diskreditiert. Wo andere Baustoffe durch natürliche Eigenschaften eine eigene Anmutung besitzen, ist Beton ebenso formbar wie formlos. Anders als Holz oder Backstein besitzt Beton keine materialspezifische Vielgliedrigkeit, die die Oberflächen ornamentiert. Auch die graue Farbigkeit trägt nicht gerade dazu bei, ihn freundlich wirken zu lassen.
Was den Beton dagegen auszeichnet, ist seine flächige Wirkung. Fehlende Lieblichkeit gleicht er durch technische Präzision und Purismus aus. Vor allem Architekten in Ländern wie der Schweiz oder Japan haben dieses ästhetische Potential längst realisiert. Und zwar nicht nur für die Fassade. Sondern auch als innenarchitektonisches Gestaltungselement: Treppen, Wände, Decken, aber auch Tische, Sessel und Waschbecken gießt man heute aus Beton. Ob sich irgendwann auch die „Deutsche Gemütlichkeit“ im schlichten Grau einrichten kann, muss sich allerdings noch zeigen.