: Namen der Nummern
Das Verbrechen
Im Jahr 1943 gab die SS-Wissenschaftsorganisation „Ahnenerbe“ den Auftrag, im KZ Auschwitz 86 jüdische Frauen und Männer zu selektieren und ins elsässische KZ Natzweiler-Struthoff zu deportieren. Dort wurden sie mit Gas getötet. Ihre Skelette sollten im Anatomischen Institut der „Reichsuniversität Straßburg“ ausgestellt werden, als Teil eines Panoptikums der Rassenpropaganda.
Initiator der Exekution war Professor August Hirt, seit 1936 Leiter der Straßburger Anatomie. Als sich die Kriegslage aus Sicht der deutschen Besatzer verschlechterte und die Alliierten von Westen näher rückten, wurden einzelne Abteilungen der Reichsuniversität nach Tübingen verlagert.
Hirts Problem: die Leichen der Häftlinge, die im Keller der Anatomie konserviert waren und entdeckt zu werden drohten. Ende September 1944 begannen Hirts Helfer, 70 Leichen unkenntlich zu machen – sechzehn blieben unverstümmelt in drei Bottichen.
1953 wurde August Hirt vor dem Militärgericht Metz in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Doch Hirt hatte sich bereits 1945 selbst getötet. Nach der Befreiung Straßburgs wurden die Leichen und Leichenteile entdeckt und obduziert. An dreizehn Leichen und drei Leichenteilen fanden die Gerichtsärzte noch Tätowierungen aus Auschwitz. Dennoch ließ man sie nie identifizieren. Sie wurden in einem Massengrab in Straßburg beigesetzt.
Die Recherche
1998 macht sich der Historiker und Journalist Hans-Joachim Lang auf die Suche nach den Namen der Opfer und deren Angehörigen. Über fünf Jahre dauerte Langs Recherche, bis er den genauen Ablauf des Verbrechens rekonstruiert und die Opfer identifiziert hatte. Entscheidender Wegweiser waren heimliche Notizen eines Angestellten des Anatomischen Instituts in Straßburg, Henry Henrypierre.
Im Archiv des Washingtoner Holocaust-Museums stieß Lang auf eine Schreibmaschinenabschrift. Damit ließen sich den Nummern zwar Namen zuordnen, die Opfer jedoch noch nicht identifizieren. Unter anderem mit Hilfe einer Blutgruppenuntersuchung aus dem Archiv des Auschwitz-Museums und dem „Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau“ der polnischen Historikerin Danuta Czech erschloss sich Lang nach und nach, dass 86 Häftlinge ermordet wurden, die zuvor aus insgesamt acht europäischen Ländern nach Auschwitz deportiert worden waren.
Vergangenen Dienstag erhielt er für seine Recherche-Leistung den Preis der Foundation Auschwitz in Brüssel. Lang, geboren 1951, studierte in Tübingen Germanistik, Kultur- und Politikwissenschaft und promivierte 1980. Seit 1982 arbeitet er als Redakteur beim Schwäbischen Tagblatt in Tübingen. 1989 erhielt er den Wächterpreis der deutschen Tagespresse.
Seine verzweigten Recherchen über das Verbrechen in Natzweiler hat Lang in einem Buch dokumentiert: „Die Namen der Nummern“, Hoffmann und Campe, Hamburg 2004, 303 Seiten, 19,90 Euro.
Rekonstruktion der Lebensgeschichten
„Als ich vor dem Haus stehe, das nicht mehr das Haus ist, in dem Alice Simon gelebt hat, ergreift mich ein seltsames Gefühl von Vertrautheit. Unzählige Male schon bin ich in Gedanken durch ihre verlassene Wohnung gelaufen. Die Treppe hinauf in die erste Etage gestiegen, in die weiträumigen Diele einer menschenleeren Wohnung eingetreten. Und wieder einmal habe ich die Tür geöffnet. Ich gehe am Wohnzimmer vorbei, schaue ins Arbeitszimmer, werfe Blicke in zwei Gästezimmer, ins Esszimmer und in die Küche, Einrichtungsgegenstände lassen das großbürgerliche Ambiente erahnen.
[…] Meinen Rundgang durch die sieben Räume nebst Küche und Korridor möbliert einzig und allein ein Formblatt des Oberfinanzpräsidiums Alt-Moabit. Penibel ausgefüllte zehn Seiten listen das gesamte Inventar auf, das am 23. Juni 1943 ein Finanzbeamter zusammen mit einem freiberuflichen Schätzer ‚gewissenhaft aufgenommen und bewertet‘ hat. 162 Positionen werden aufgeführt und, gemäß den Richtlinien für die ‚Verwertung des eingezogenen Vermögens von Reichsfeinden‘, weit unter Wert taxiert. Alice Simon war Protestantin. Aber wegen ihrer jüdischen Abstammung galt sie wie alle Juden als Reichsfeindin.
Das alte Haus, das heute nur noch als Gedankengebäude besteht, hat für mich kein Gesicht. […] Die Suche verläuft sich. Hier ist nicht der Ort, um einer ausgelöschten Lebensgeschichte auf die Spur zu kommen.“ („Die Namen der Nummern“, Seite 15 f.)