Märchenwintertod

Alzheimer – Pisseimer – Alzheimer – Pisseimer. Flotter Rhythmus

Mein Cello neben dem Pisseimer von irgendeinem tauben Alzheimer, der das Klo nicht mehr findet!

VON GUDRUN MÜLLER-SABE

VORHANG AUF, das Fenster weit auf. Winterluft, Schneegeruch. Dass es nach Schnee riecht – . Wo sind meine Sachen? Und keine Hanna hinter mir. Du könntest herausfallen, hör ich sie noch, aber ich falle nicht. Ich nehme die Treppe. Unten die Tür aufmachen und Schneeflocken einatmen. Die Kappe aufsetzen.

Regel Nummer eins: das Haus verlassen, wenn es anfängt zu schneien. Unauffällig fortgehen, unsichtbar sein, Spuren löschen.

Die Tür schließen. Ich habe die Tür geschlossen. Alles, was ich tue, zweimal sagen, aus Angst vorm Vergessen. Nicht vergessen, dass niemand ins Haus darf. Das Haus gehört unserem Jungen. Früher gehörte es Hanna, dann mir. Dann wollte es der kleine Herr haben, der sich mit flinken Augen in jeden Winkel stahl.

Kein Problem, sagte der Flinke, das regelt alles der Notar. Dafür werden Sie bestens versorgt sein. Aber bestens kostet. Sie wissen ja: (an dieser Stelle ein meckerndes Lachen ) Umsonst ist nicht mal der Tod, und Qualität hat ihren Preis.

Ein Haustier dürfte ich mitnehmen. Ich habe kein Haustier, ich habe ein Cello.

Ihr Cello können Sie mitnehmen, verspricht mir der Flinke. Das Zimmer ist groß genug für persönliche Dinge. Die Leitung legt Wert darauf, dass niemand seine persönlichen Dinge vermisst. Und auf noch irgendwas Humanes, wofür es ein Zertifikat gibt. Zertifiziertes Pflegeheim.

Ich: Dann kann ich auf meinem Cello spielen? Der Flinke: Wie kommen Sie denn darauf? Ihr Zimmer ist für zwei.

Für zwei? Warum sagen Sie dann: MEIN Zimmer? Wie findest du das, Hanna? Ja, um Gottes willen, Hanna, tu doch was! Du musst mit ihnen reden! Wie soll ich im Beisein des anderen üben? Der hat vielleicht Tinnitus oder Alzheimer und ich verbitte mir solche Umstände. Immer wenn ich Hanna rufe, liegt sie am Boden, die Augen weit aufgerissen, und ihre Lippen flüstern was. So was wie: Ich kriege keine Luft mehr.

Ich gehe, komme voran, aber die Zeit steht. Wenn Schneeflocken fallen, steht die Zeit still. Schnee ist kein Aggregatzustand, Schnee ist ein Zauber. Töne sind auch ein Zauber. Blumen sind ein Zauber. Mit Blumen muss man sich aber auskennen. Vor mir haben sie sich verschlossen. Was ist nur aus dem schönen Garten geworden? Die Nachbarn haben mich angesprochen. Einmal kam einer und wollte sehen, wie es drinnen ist. Kommen Sie herein, hab ich gesagt, denn es war wie immer. Nur dass ich mich neuerdings überall stoße.

Ich habe dem Nachbarn das große Foto von dem erwachsenen Mann gezeigt, das im Flur hängt: unser Sohn! Ich habe gesagt, was Hanna mir beigebracht hat: Das ist unser Sohn, er arbeitet in Neuseeland. Dabei ist unser Sohn der Kleine mit dem runden Gesicht und den Kirschlippen im Silberrahmen auf Hannas Nachttisch. Aber das geht die anderen nun wirklich nichts an. Er braucht sich keine Sorgen machen, hab ich dem Nachbarn versichert. Meine Frau hat sich auch keine gemacht. Er muss nicht wissen, dass Hanna mir fehlt. Ihr Geruch. Ihr Lachen. Ihre runde Handschrift auf den gelben Zetteln überall:

„Mach das Licht aus“ – „Geh nicht an den Herd“ – „Schließ die Tür ab“ – „Lass das Fenster zu“ – „Dreh den Wasserhahn zu“ – „Warte auf mich mit dem Spaziergang“ – „Geh nur bis zum Bäcker“ – „Nimm den Ausweis mit“ – „Vergiss die Tabletten nicht“.

Der Schnee deckt mich. Regel Nummer zwei: nicht auffallen. Grüßen, wenn dir jemand begegnet, gemessen und voller Heiterkeit. Nichts über den Moment Hinausgehendes durchblicken lassen.

Unverdrossen weitergehen. NIEMALS INS HEIM GEHEN! Wie auch: Mein Cello neben dem Pisseimer von irgendeinem tauben Alzheimer, der das Klo nicht mehr findet!

Der Schnee fängt mich auf, es geht sich wie auf Daunen.

Links – rechts – links – rechts – Alzheimer – Pisseimer – Alzheimer – Pisseimer – . Flotter Rhythmus, zu schnell für mich. Es wird ja noch steiler. Dann muss etwas anderes her.

Oben wird es ganz ruhig sein. Nach trockenem Laub wird es riechen, nach Moos zwischen den Wurzeln, davor Haufen von Schnee. Eine Hand voll davon zum Durstlöschen. Die Nacht wird lang sein. Auf das Morgenlicht warten.

Hel – ler – wird – es – schon – im – Os – ten … - wie war das noch?

Hel – ler wird es schon im Os – ten Durch der Son – ne klei – nes Glim – men Weit und breit die Ber – ges – gip – fel In dem Ne – bel – mee – re schwim – men –

Von wem war das noch?

Hätt ich Sie – ben – mei – len – stie – fel, Lief ich mit der Hast des Win – des, Ü – ber je – ne Ber – ges – gip – fel, Nach dem Haus des lie – ben Kin – des.

Hanna dachte, das ist von mir, so verliebt war sie. Verliebt wie ich, der ich meinen Namen unter die Zeilen gesetzt habe. Was für ein entzückender Brief!

Lei – se küsst ich ih – re Stir – ne, Lei – se ih – res Munds Ru – bi – nen. Und noch lei – ser wollt ich flüs – tern In die klei – nen Lil –jen – oh – ren: „Denk im Traum, dass wir uns lie – ben, Und dass wir uns nie ver – lo – ren!“

Endlich oben! Ausruhen und lauschen, die Nacht empfangen, das Morgenlicht schauen. HEIMGEHEN.

Wer mich findet, weiß: Dieser Ort wurde mit Bedacht gewählt. Weiß: Das ist kein hirnloser Unglücksfall, kein ergebnisoffener Selbstmordversuch, kein Akt der Verzweiflung. Hier hat man ein Finale von erhabener Größe: MEIN ENDE.