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Archiv-Artikel

„Das wird kein Dialog“

PROTESTE IN GEORGIEN Die Schriftstellerin Naira Gelaschwili sieht in den Protesten gegen Präsident Saakaschwili einen Aufstand gegen die Zerstörung aller moralischen Werte

Naira Gelaschwili

■ 61, ist georgische Schriftstellerin, Germanistin und Übersetzerin. Sie leitet das Kaukasische Haus in Tiflis, das sich vor allem für die Verständigung zwischen den Völkern des Kaukasus einsetzt.

taz: Frau Gelaschwili, seit Wochen demonstrieren Oppositionelle regelmäßig gegen Präsident Michail Saakaschwili und die Regierung. Wie würden Sie die Proteste charakterisieren?

Naira Gelaschwili: Was wir derzeit erleben, ist vor allem ein Aufstand gegen die Zerstörung aller moralischen Werte. Bei den Protesten auf dem Freiheitsplatz in Tiflis werden Fotos von jungen Leuten gezeigt, die in den vergangenen drei Jahren von Polizisten gefoltert und ermordet wurden. Nach dem Krieg wurden die Mörder eines dieser jungen Menschen begnadigt. In der Altstadt von Tiflis wurden historische Gebäude mit Bulldozern zerstört. Dann ließ Saakschwili auch noch in seinem Dienstflugzeug eine Masseurin aus den USA einfliegen. Das war zu viel.

Warum formiert sich die Protestbewegung erst jetzt, acht Monate nach dem Krieg gegen Russland um Südossetien?

Die große Unzufriedenheit machte sich schon gleich nach den Kämpfen bemerkbar, doch die Menschen wussten nicht, was sie machen sollten. Saakaschwili hat gedroht, dass die Russen wiederkämen, wenn Unruhen ausbrächen. Das hat lange gewirkt, verfängt aber nicht mehr. Viele Menschen sind jetzt der Meinung, es sei egal, wer sie vernichtet, die Russen oder Saakaschwili.

Spielt der Krieg bei den Protesten noch eine Rolle?

Weniger der Krieg, vielmehr die Propaganda der Regierung. Die tut so, als ob die Georgier den Krieg gewonnen, große Fortschritte erzielt hätten und die Probleme mit Südossetien und Abchasien noch nie so kurz vor einer Lösung standen wie jetzt. Von Schuldgefühlen angesichts dieser Katastrophe keine Spur.

Wie berichten denn die oppositionellen Medien?

Die beiden einzigen oppositionellen Fernsehsender sind nur in Tiflis zu empfangen. Die fünf wichtigen Kanäle, die die Menschen landesweit sehen können, unterstehen alle der Regierung. Sie zeigen ständig, dass das Land aufgebaut wird und alles blüht. Meine Mutter ist 90 Jahre alt und sieht diese Programme. Sie sagt: Es ist so gut, dass ich vor meinem Tod meine Heimat noch so glücklich sehe. Was die staatlichen Medien tun, kommt einer Volksverdummung gleich. Da ist es fast ein Wunder, dass die Menschen überhaupt protestieren.

Saakaschwili hat die Opposition getroffen. Ist das ein Erfolg der Protestbewegung?

Sowohl die Opposition als auch die Mehrheit der Öffentlichkeit erwarten von den Gesprächen nichts Positives. Das wird kein Dialog, sondern ein Monolog des Präsidenten. Zudem kann er das Treffen für seine Ziele ausnutzen. Das hat er 2008 getan. Damals wurden Vertreter der Opposition diskreditiert, so als ob sie den Präsidenten um Privilegien oder Geld gebeten hätten.

Die Demonstranten fordern den Rücktritt Saakaschwilis.

Ich glaube nicht, dass Saakaschwili dem Druck nachgeben wird, obwohl er das Vertrauen der Bevölkerung in seine Politik restlos verspielt hat. Er wird versuchen, sich mit allen Mitteln an der Macht zu halten.

Sie bemühen sich mit Ihrer Arbeit im Kaukasischen Haus um Versöhnung zwischen den kaukasischen Völkern und hatten da schon viel erreicht. Wie ist die derzeitige Situation?

Seit dem Krieg haben wir überhaupt keine Beziehungen mehr zu Südossetien. Zu uns kommen die Menschen nicht mehr und wir können es auch nicht wagen, nach Südossetien zu fahren. Dennoch werden wir unsere kulturelle Arbeit fortsetzen und auch weiter Bücher in ossetischer Sprache herausgeben. Vielleicht werden, nach einiger Zeit, auch gegenseitige Besuche wieder möglich. Ein politische Lösung kann man vorerst jedoch vergessen. Aber die Politiker werden dem Volk nicht sagen, dass dieses Spiel verloren ist.

INTERVIEW: BARBARA OERTEL