Alles scheint neu und geheimnisvoll

Das Sinnliche aus der Narration schälen: In ihrem neuen Film „L‘intrus“ hat die französische Regisseurin Claire Denis einen Abenteuerfilm auf sein Skelett reduziert. Er ist im Rahmen einer Claire-Denis-Reihe im Babylon zu sehen

„Dieses Haus ist das letzte Haus der Welt“ ist die Inschrift auf der Tafel des Herrenhauses in „Chocolat“ (1988), dem Debütfilm von Claire Denis: eine melancholische, postkoloniale Erinnerungsarbeit der Pariser Regisseurin über ihre Jugend im Französisch-Westafrika der Fünfziger. Es geht um die letzten Tage der Kolonialzeit, um erotisch aufgeladene Gefühle und unausgesprochene Machtverhältnisse zwischen Franzosen und Einheimischen, aber die schwelenden Konflikte entladen sich nie. Statt kausalen Abfolgen und Lösungen sind da nur musikalische Ellipsen, brüchige Psychologie, ein Akkumulieren subtiler, oft widersprüchlicher Stimmungen.

Das Ungewöhnliche, das Eigen- und Einzigartige am Kino von Claire Denis, ihre Weigerung, das Lyrische und Sinnliche narrativen Zwängen zu opfern, kann man schon im Erstling rudimentär, doch deutlich spüren. Die Tafel vorm Haus erzählt weniger davon, dass die in „Chocolat“ beschriebene Welt an der Schwelle zum Untergang steht (das auch), sie beschreibt vor allem die Atmosphäre, in der sich die Ereignisse entfalten: im kontemplativen, schlendernden Rhythmus des Lebens in einem gottverlassenen Winkel irgendwo in Afrika.

16 Jahre später beginnt der neue Film von Claire Denis bei einem anderen Haus, das das letzte dieser Welt sein könnte, aber es liegt mitten im Herzen Europas: eine Hütte im Schweizer Jura, wo ein mysteriöser Mann (Michel Subor) seinen Lebensabend als Eremit verbringt. Er streift mit seinen Huskies durch die Bergwälder, er scheint von den Erinnerungen an eine dunkle Vergangenheit geplagt. Einmal tötet er überraschend einen Eindringling mit seinem Messer.

„L’intrus“ heißt auch der Film, inspiriert vom gleichnamigen Text des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy über seine Herztransplantation. So außerordentlich wie die Wahl der Vorlage ist auch die radikal fragmentarische Form dieses Bildgedichts: Es schält sich eine Art Handlung heraus – die von Subor gespielte Figur sucht einen verlorenen Sohn und ein neues Herz, macht eine Weltreise über Korea bis in die Südsee.

Aber der „Geschichte“ ist mit herkömmlichen Erwartungen nicht beizukommen: Die erfolgte Herzoperation manifestiert sich charakteristischerweise nur in einem Zeichen, einer großen Narbe auf der Brust. „L’intrus“, geradezu haptisch fotografiert von Agnès Godard, seit den Anfängen kongeniale Kamerafrau von Denis, ist der vorläufige Höhepunkt im Kino der Regisseurin, die sich an genuin modernen Neudeutungen von Genremythen versucht: ein Serienmörderfilm („Ich kann nicht schlafen“, 1996), ein Vampirfilm („Trouble Every Day“, 2001) oder eben nun (wie auch schon in „Beau Travail“ von 1999) ein Abenteuerfilm, auf sein narratives Skelett reduziert und dann mit einer Art neuem Körper versehen, dessen wichtigster Lebenssaft die überwältigende Kraft der Bilder ist.

In „L’intrus“ nähert sich Denis auf vielfältige Weise dem Thema des Eindringens: eines fremden Herzens in den Körper, illegaler Flüchtlinge über die Grenze, der Erinnerung in die Gegenwart – Letzteres auch ganz filmisch, wenn sich Bilder einer wiederentdeckten Stevenson-Verfilmung mit Subor, „Le Reflux“ (1965) von Paul Gégauff, mit dem neuen Material vermischen. Aber viel wesentlicher scheint die spürbare Stärke der Sinneseindrücke: Das Graugrün des nächtlichen Meers wie in einem Bild von Paul Gauguin vor Tahiti, Béatrice Dalle als „Königin der nördlichen Hemisphäre“, wie sie in der unvergesslichen Schlussszene im tief dekolletierten Pelz ihre Huskies durch den Winterschnee treibt.

Oder ein Neugeborenes, das in Großaufnahme in die Welt blickt: Alles scheint ihm neu und geheimnisvoll. Wie der Blick der Kamera in einem Claire-Denis-Film. CHRISTOPH HUBER

„L’intrus – Der Eindringling“. Frankreich 2004, Regie: Claire Denis, Darsteller: Gregoire Colin, Béatrice Dalle, Yekaterina Golubeva u. a., 130 Min. Heute, 22 Uhr, morgen (Donnerstag), 20 Uhr, Filmkunsthaus Babylon, Rosa-Luxemburg-Straße 30, Mitte