: Ich lebe
ÜBERLEBENDE Grigorij Nikonovitsch Kulbaka hat das Inferno des Konzentrationslagers Neuengamme überlebt. Ein gemeinsamer Spaziergang über die heutige Gedenkstätte vor den Toren Hamburgs
1938 richteten die Nazis das Lager als Außenstelle des KZ Sachsenhausen in einer stillgelegten Ziegelei ein. Die Klinkerproduktion war für die von Hitler geplanten „Führerbauten“ bestimmt.
■ 1940 wurde das Lager zu einem KZ ausgebaut.
■ In der zweiten Kriegshälfte trat die Klinkerproduktion in den Hintergrund, immer mehr Häftlinge arbeiteten in der auf dem Gelände angesiedelten Rüstungsindustrie.
■ Bei Kriegsende wurde das KZ geräumt, die Baracken geweißt.
■ Ab 1948 nutzte die „Vollzugsanstalt Vierlande“ Teile des Geländes und Gebäude des früheren KZ.
■ 1965 wurde auf Initiative ehemaliger französischer Häftlinge eine Gedenkstele ohne Inschrift eingerichtet.
■ 1981 erreichtete die Stadt Hamburg dort zusätzlich ein Ausstellungshaus.
■ Im Mai 1985 wurde eine rosafarbene Steinplatte niedergelegt und erstmals in dieser Form öffentlich an die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus erinnert.
■ Seit 2003, nach Schließung der Strafanstalten, wurde die Gedenkstätte nochmals erweitert. (map)
VON MAXIMILIAN PROBST
Als Grigorij Nikonovitsch Kulbaka vor ein paar Tagen die Gedenkstätte Neuengamme betrat, hat er geweint. Hat ein Taschentuch hervorgekramt, sich das Gesicht getrocknet und gesagt: „Ich lebe“ – als könne, vielleicht als dürfe das nicht sein. Heute sagt er: „Schön ist das hier, schön.“ Nachmittagssonne, zwei träge Windräder, Geflüster in der Silberpappelwehr.
Dann beginnt er zu zählen, zwei, drei, vier, den rechten Zeigefinger auf dem Daumen, die restlichen Finger zur Faust, bewegt er die Hand im Takt. „Da war’s“, sagt er und deutet auf eine der lang gezogenen, drahtumzäunten Steinmarkierungen von der Größe der zwei Klinkerbauten, die das Gelände begrenzen. „In der Baracke dort war ich untergebracht.“ Er erinnert sich so genau daran, als sei es gestern gewesen – und nicht schon gut ein Menschleben her.
Der heute 83-jährige Kulbaka kam im Januar 1943 ins KZ Neuengamme. Da war er gerade 17 Jahre alt. Als Partisan hatte er zuvor gegen die deutsche Besatzungsmacht in der Region Dnepropetrowsk der heutigen Ukraine gekämpft.
Kulbaka trägt einen grauen Nadelstreifenanzug mit Weste, dazu ein blaues Hemd. Er hat sich bei der 79-jährigen Ksenija Maximovna Olchova eingehakt, die einen blauen Fleece-Pullover anhat. Darauf steht, klein gedruckt unter dem Markennamen: „Make yourself heard“. Auch Olchova ist ehemalige Zwangsarbeiterin, nach dem Warschauer Aufstand wurde sie als 14-Jährige verhaftet und ins KZ Neuengamme deportiert, anders als Kulbaka aber in eine innerstädtische Außenstelle. Heute sind die beiden ein Paar. Kennengelernt haben sie sich vor ein paar Jahren, als sie bei der Stiftung Erinnerung, Vergangenheit und Zukunft (EVZ) zwecks Entschädigung den Nachweis ihrer Zwangsarbeit erbringen mussten.
Wie die beiden nun übers Gelände der Gedenkstätte wandeln – der Ruf eines Fasans, ein Hase hoppelt vorbei – könnte man sie für ländliche Sonntagsspaziergänger halten. Man muss sich fast zu dem Bewusstsein zwingen, dass man auf infernalischem Boden steht, dass hier etwa 55.000 Menschen umkamen, an Entkräftung, Unterernährung, Seuchen oder als Opfer von Mord und Misshandlung.
Weitere Tausende starben nach der Auflösung des Lagers Ende April 1945. Kulbaka wurde damals mit gut 10.000 Mithäftlingen auf die „schwimmenden KZ“ der Schiffe Thielbek und Cap Arcona in der Lübecker Bucht verlegt. Als britische Flugzeuge die Schiffe kurz darauf versenkten, fanden 7.000 Menschen den Tod. Kulbaka konnte sich an einer Planke festklammern und ans Neustädter Ufer retten. In den nächsten Tagen wird er die Stelle, wo er halbtot an Land krabbelte, wieder besuchen: „Baden gehen“, sagt er und lacht.
Jetzt aber gehen wir zum Klinkerwerk, der Ziegelei am Rand der Gedenkstätte. Dort war die nationalsozialistische „Vernichtung durch Arbeit“ in Neuengamme am massivsten. Auch Kulbaka hatte die Schinderei des Tontransports nach wenigen Wochen ausgemergelt und an den Rand des körperlichen Zusammenbruchs getrieben. Es rettete ihm damals das Leben, dass er durch die Hilfe befreundeter Mithäftlinge im Arbeitseinsatzbüro in die Gärtnerei versetzt wurde.
Dort konnte er sich körperlich erholen, gefährlich war aber auch das. Als er beim Versuch erwischt wurde, vier Tomaten einzustecken, prügelte man in bewusstlos, mit Stricken, an denen Metallkugeln befestigt waren. „Der Wärter hieß Speck“, erinnert sich Kulbaka. Lachend zeigt er ein paar Goldzähne und sagt dann: „Schrecklich, schrecklich“.
Auf dem Weg zum Klinkerwerk kommen wir an Schiebewagen auf Schienen vorbei. „Die Lore“, sagt Kulbaka mit rollendem R und in dem seufzenden Tonfall, in dem man sich alte Jugendfreunde ins Gedächtnis ruft. Er geht zu einem der Wagen, versucht, einen eingerosteten Hebel umzulegen, sagt: „Sechs Mann brauchten wir früher zum Schieben“ und stemmt sich mit dem Oberkörper dagegen. Nichts regt sich. „Wir sind beide alt, die Lore und ich.“ Und weiter geht Kulbaka, und dreht sich nicht noch einmal um nach der Lore, in der zartgrün das Gras und gelb der Löwenzahn sprießt.
Vor der Ziegelei steht Kulbaka schweigend. Die massive Rampe; das große U des Ofens; die Falten in seinem jetzt verschatteten Gesicht, wie Grabinschriften gekerbt: aus einer Hand, denkt man, und erschrickt.
Auch auf dem Rückweg: Schweigen, stilles Leiden. Dann, auf den letzten Schritten vorm Eingang, hakt sich Kulbaka bei mir ein. Sein Arm ist noch so kräftig wie seine Stimme. „Ich muss an alle denken, die hier nicht rausgekommen sind“, sagt er. „Die Menschen, die hier geblieben sind, bei denen bin ich. Immer.“
Auch wenn er jetzt schon wieder einem Mitarbeiter der Gedenkstätte zuruft: „Wir spazieren, sprechen, essen“; auch wenn er jetzt der Fotografin weltgewandt einen Handkuss gibt und lacht; auch wenn oder gerade weil – er eben lebt, Grigorij Nikonovitsch Kulbaka.