: Gebunden an die Männer
DER TRAGÖDIE FLUCH Man muss nicht tief graben, um schmutzig zu werden: Jossi Wieler inszeniert „Iphigenie auf Tauris“ an der Schaubühne – auf dem Mahnmal einer Rasenfläche und mit einer geheimnisvollen und eigensinnigen Judith Engel
VON SIMONE KAEMPF
Das Mädchen hockt auf dem Rasen und hat ihr Kleid tief über die Knie gezogen. Der Stoff umhüllt sie wie ein Schutzwall. Und tatsächlich gilt es nicht nur die schönen Worte abzuwehren, mit denen Thoas sie umgarnt. Er umkreist sie mit einer Anspannung, jederzeit dazu bereit, körperlich zuzupacken. Was ein Brautwerben sein soll, ähnelt einer perfiden Form des Machtmissbrauchs. Thoas, der Herrscher jener Insel Tauris, auf die Iphigenie einst wundersam vor dem Tod gerettet wurde, hat ihr Schutz und Gastrecht gewährt, aber nun pocht er auf „Vertrauen, das der Wirt für seine Treue wohl erwarten darf“.
Intimität und Grauen
Bald sitzt Iphigenie tatsächlich auf seinen Knien, schutzsuchend wie ein Kind an seinen Hals geklammert. Er wiederum vergräbt sein Gesicht in ihren Schoß, während sie ihr Geheimnis preisgibt: Die Geschichte ihrer Herkunft, angefangen bei dem Mord, durch den Pelops seine schöne Frau Hippodamia gewann, Thyestes’ Brudermord, bis zu ihrer eigenen Opferung, die dem Vater Agamemnon den Kriegszug gegen Troja ermöglicht. Intimität und Grauen.
Es ist ein intensiver wie beklemmender Anfang von Jossi Wielers Inszenierung, die eine Vorstellung aufbaut, wie die Aufarbeitung von Gewalt wieder in andere Form von Gewalt münden kann. Jossi Wieler hatte ja auch zuletzt Jelineks „Rechnitz“-Stück in München inszeniert.
Aber Goethe ist nicht Jelinek. Wielers „Iphigenie“ trägt schwer an der Last des Tragödientons. Auch im Moment größten Schreckens ist man nie um ein wohlgesetztes Wort verlegen. Die kammerspielartige Intimität verliert sich gegen Ende im Pathos des Textes.
Erst einmal aber führt Jossi Wieler packend in das Drama eines Mädchens, das erkennt, wie eng und gebunden das Glück ist. Gebunden an Männer: den lang ersehnten Bruder Orest, der sich schuldig gemacht hat, seinen Begleiter Pylades, an den Diener Arkas, der sie zu Pragmatismus überreden will, und an Thoas, der ihr am Ende die Freiheit schenkt. Gebunden auch an Fluch, Schuld und Familie, von denen viel die Rede ist. Und an das Verschwiegene, das diese Iphigenie endlich ausspricht.
Träumerische Sehnsucht
Es ist kein Ausbruch, der da stattfindet, und auch keine therapeutische Aussprache, für die Goethes Verse zu gemeißelt sind und Jossi Wieler auch ein viel zu subtiler Regisseur wäre. Ort und Zeit der Figuren bleiben ungewiss, ebenso die innere Verfasstheit dieser Iphigenie, eigensinnig gespielt von Judith Engel.
Fast schüchtern die Szene, in der sie mit dem Rücken im Gras liegt und Flugzeuglärm von Ferne über sie hinwegbraust. Eine Verbildlichung ihrer träumerischen Sehnsucht, diesen Ort zu verlassen. Eine großer schräger Rasen ist die Spielfläche, eingerahmt von zwei Aufgängen aus schwarzem Stein wie beim einem Mahnmal. Trotz der Weite ein beklemmender Ort, und trotz der Graswiese ein unnatürlicher Ort, ohne jedes Erlösungsangebot. Auf dem Gras weicht Orest (Ernst Stötzner) zurück als er, der Todessehnsüchtige, erkennt, dass er seine Schwester wiedergefunden hat. Mal fährt ein Messer in die Erdballen, als stochere man nach den Dämonen unter der Oberfläche. Von dem Blumenstrauß, den Thoas mitbringt, bleiben einige giftrote Rosenköpfe mahnend auf dem Grün liegen. Die idealisierte Seelenlandschaft, in die Goethe den Mythos harmonisch verpackte, bleibt an diesem Abend eine grau-moderne Atmosphäre des Schreckens.
Aus der kommt die Inszenierung selber nur mithilfe eines künstlichen Fluchtwegs heraus. Burghart Klaußners Thoas’ rennt von den Bühne durch den Zuschauereingang nach draußen. Ein Türenknall, kein überzeugender Schlusspunkt. Orest lebt jedoch, und man kann das von Wieler ganz dialektisch verstehen: Wenn der Schrecken nicht abzuschaffen ist, wähle man immer das kleinstmögliche Übel.
■ Wieder am 19.–21., 25./26., 29./31. Mai, jeweils um 20 Uhr, Schaubühne am Lehniner Platz