Jeder neuen Falte einen Böller

Sekt kaufen und Spiele spielen: Auch in diesem Jahr sollte Silvester nicht einfach nur ignoriert werden. Schon allein deshalb, weil alle Exklusivitätsgedanken albern sind, die das Massenkompatible von vorneherein verurteilen

Bei meinem „Plus“, den ich als frankophiler Mensch nur noch „Plüh“ ausspreche, war heute eine Schlange bis zu dem Kühlregal, in dem der „Onri Kons“ liegt, den die Frankophoben „Henri If“ aussprechen. Dabei gibt es bei Plüh noch nicht mal Champagner, sondern nur deutschen Schaumwein. Aber Silvester steht vor der Tür, und da schmeißen sogar sämtliche Bettler ihre Penunzen zusammen, um wenigstens eine Kiste Faber-Sekt springen lassen zu können. Finde ich auch gut so. Ich bin keine Silvesterhasserin, wie einige meiner FreundInnen, die sich darüber aufregen, dass an Silvester ja immer alle feiern würden, und das würde das Feiern an sich irgendwie schmälern. Das ist großer Quatsch, meiner Ansicht nach, denn daraus spricht mal wieder dieser alberne Exklusivitätsgedanke, der alles Massenkompatible von vorneherein verurteilt, egal ob es ein Buch, ein Film oder eben ein Anlass ist. Stattdessen sollte man lieber Toleranz walten lassen und sich am Silvesterabend genauso benehmen wie sonst auch: Wenn man ausgehen, sich betrinken und Küssen möchte, tut man es, wenn einem eher nach Zuhausebleiben ist, man Karten spielen und noch mal kurz die Steuer- (oder VG-Wort-) Papiere ordnen möchte, dann tut man es ebenfalls.

Mir ist normalerweise nach Ausgehen. Sogar wenn die verdammte Steuer mir unter den Nägeln brennt. Ich lasse mich meist auch gerne ein wenig in diese typischen Silvesterspiele integrieren, etwa „Schlapp hat ’n Hut verlor’n“, „Drei Fragen hinter verschlossener Tür“, „Käpt’n Böff trinkt zum ersten Mal, Prost!“ oder einen Jahresrückblick machen. In diesem Jahr hatte ich meinen Rückblick bereits zwei Wochen vor Silvester fertig, was insofern interessant war, weil fünf der insgesamt 20 Punkte sich in den letzten beiden Wochen noch änderten: In der Rubrik „Größte Katastrophe (global)“ strich ich die unpersönliche und pseudopolitische Antwort „Präsidentenwahl USA“ durch und ersetzte sie durch das in erster Linie millionenfach katastrophalere „Seebeben“. Bei „Bester Song“ ersetze ich nach langem Nachdenken doch noch „Bad Dream Mama“ von den Eagles of Death Metal durch „Spill the wine“ von Eric Burdon and The War, zugegeben nicht gerade ein aktuelles Stück, aber ich habe eben immer eine Schwäche für Stücke, die schon seit Jahrzehnten falsch verstanden wurden und sich mindestens einen Eintrag in der „Misheard Lyrics“-Bestenliste verdient haben. Bei „Spill the wine“ war niemandem je klar geworden, warum Eric den Wein herumspritzen soll, und ob er danach die Perle („the pearl“) oder das Mädchen („the girl“) nehmen und sich eine weitere Kerbe in seinen Musikergürtel schnitzen soll.

In der Rubrik „Bester Sex“ hat sich ebenfalls etwas geändert, wenn auch nur eine Kleinigkeit. In der Rubrik „Netteste Neubekanntschaft“ habe ich vor zwei Tagen „ADAC-Engel“ eintragen müssen, ganz objektiv, denn so effektiv hat mir eine Neubekanntschaft bis dato noch nie geholfen. Und die Rubrik „Vorsatz 2005“ habe ich auch noch gestern aktualisiert: Ich werde nie in meinem Leben, auch wenn ich in einem Jahr gesunde Siebenlinge werfen sollte, am Jahresende Fotos von den Kleinen als Engel oder Weihnachtsmann verkleidet herumschicken, schon gar nicht per Mail als „pps“, das ist eine „Bildschirmpräsentation“, bei der man eine Menge Fotos auf einmal einscannen und mit spaßigen Unterzeilen versehen kann. Ein Glück für diese Eltern, dass ich nicht weiß, wie man Computerviren erfindet.

Der Rest des Jahresrückblicks wird aber vermutlich gleich bleiben, ich werde ihn heute Abend Revue passieren lassen, eine Kiste Faber-Sekt dazu trinken und für jede neue Falte einen Polenböller anstecken. Ab einem gewissen Alter macht es nämlich Spaß, zusammen mit den anderen älter zu werden. JENNI ZYLKA