: Es gibt kein Land zu gewinnen
Nach neuen Erdstößen fliehen in Indien Menschen panisch ins Landesinnere. Auf den Nicobaren ist das unmöglich. Dort sind Inseln teilweise verschwunden
AUS PUNE RAINER HÖRIG
Nach neuen Erdstößen, deren Epizentren in der Inselgruppe der Nicobaren lagen und die eine Stärke von bis zu 5,2 auf der Richterskala erreichten, hat die indische Regierung am Donnerstag vor der Möglichkeit neuer Tsunamis gewarnt. Den Menschen in den betroffenen Küstenregionen wurde empfohlen, sich mindestens zwei Kilometer von der Küste zu entfernen. In der Nähe der Küstenstadt Nagappattinam, die zu den am schwersten betroffenen Gebieten in Tamil Nadu zählt, kam es daraufhin zu panikartigen Szenen, berichtete der BBC-Reporter Charles Haviland: „Alle Straßen sind verstopft, die Menschen fliehen in Pkws, Bussen, Lastwagen, zu Fuß und per Fahrrad landeinwärts.“
Am Donnerstag gab die Regierung in Neu-Delhi bekannt, die Erdbeben und Flutwellen hätten in ganz Indien 13.230 Todesopfer gefordert. 7.330 Todesfälle seien amtlich bestätigt, 5.900 Menschen würden noch auf der Inselgruppe der Andamanen und Nicobaren vermisst und müssten für tot erklärt werden. Die dortige Administration veröffentlichte allerdings am Donnerstag weitaus höhere Zahlen. Demnach sind auf der Inselgruppe mehr als 10.000 Todesopfer zu beklagen. Mehr als 25.000 Inselbewohner seien obdachlos. Insbesondere kleinere Inseln, die keine Erhebung aufweisen, müssen von der Welle komplett überspült worden sein. Viele küstennahe Siedlungen sind wie vom Erdboden verschwunden.
Die Andamanen und Nicobaren erstrecken sich in einem über 700 Kilometer langen Bogen vor der Küste Burmas bis südlich vor die Insel Sumatra. Ein Archipel von rund 250 von dichtem Regenwald bewachsenen Inseln, nur 38 sind jedoch bewohnt. Jahrtausendelang lebten hier nur Waldnomaden, die jeden Eindringling mit Waffengewalt zurückwiesen. Britische Kolonialtruppen errichteten im 18. Jahrhundert gegen heftigen Widerstand einen Stützpunkt im heutigen Port Blair und bauten dort ein Gefängnis für indische Freiheitskämpfer. 1947 fiel die Inselgruppe an die unabhängige Republik Indien. Ob der strategischen Bedeutung der Inselgruppe am Eingang zur stark befahrenen Seestraße von Malakka, richtete Neu-Delhi dort zahlreiche Marinehäfen und Luftwaffenbasen ein. Nach dem Krieg in Ostpakistan, der 1971 zur Gründung von Bangladesch führte, wurden hunderttausende von Flüchtlingen aus Bengalen auf den Inseln angesiedelt. Heute ist deren ökologische Belastungsgrenze erreicht. In der regenarmen Zeit leiden viele Dörfer unter Trinkwassermangel.
Die südlichste der Inseln, Car Nicobar, liegt nur wenige hundert Kilometer vom Epizentrum des starken Seebebens vom Sonntag entfernt. Die Flutwelle zerstörte die dortige Luftwaffenbasis und riss mehrere Dörfer fort. Die Zahl der Todesopfer wird hier auf 3.000 geschätzt, die Hälfte der 20.000 Inselbewohner werde vermisst, meldete die dortige Zeitung The Telegraph. Die kleine Insel Trinkat sei zur Hälfte im Meer versunken. Die Landzunge „Indira Point“ auf Car Nicobar, die den südlichsten Ort des indischen Staatsgebietes bildet, ist ebenfalls im Meer versunken. Die Spitze eines Leuchtturms ragt noch aus dem Wasser. Allerdings seien offiziell keine Todesopfer unter Ausländern oder Touristen auf den Inseln zu beklagen, hieß es in Port Blair. Die Völker auf Car Nicobar – unter anderem die Jarawa, Onge, Sentinelesen und Shompen – seien weitgehend unbehelligt geblieben.
Angesichts neuer Erdbebenwarnungen wird in Indien nun diskutiert, ob und wie man sich gegen Tsunamis schützen kann. Umweltschützer weisen auf die Bedeutung der natürlichen Mangrovenwälder für den Küstenschutz hin und führen als Beispiel den Wirbelsturm an, der im Oktober 1999 im ostindischen Staat Orissa eine riesige Flutwelle auslöste und mehr als 10.000 Menschen tötete. Jene Gebiete, in denen der küstennahe Mangrovenwald noch nicht zerstört worden war, seien weit weniger hart getroffen worden, sagen die Kritiker. Auch auf den Andamanen und Nicobaren wurden die Mangrovenwälder großflächig abgeholzt, zu Brennholz und Zaunlatten verarbeitet, trotz eines Fällverbots. Und der Raubbau geht weiter. Mangroven gehören weltweit zu den am stärksten bedrohten Ökosystemen.