: Wonne, Weh und Wadenkrampf
Es gibt kaum eine beliebtere Erscheinung: Einige Bemerkungen über den Beischlaf (2)
Seit gestern und noch immer beschäftigt uns der Beischlaf. Schildern wir nun also nach der theoretischen Abhandlung im ersten Teil einmal einen konkreten Fall. Schauplatz der darzustellenden Geschehnisse ist ein geräumiges Hotelzimmer der gehobenen Preisklasse, dessen komfortable Einrichtung wir nicht näher beschreiben wollen, da sie den geneigten Leser aller Voraussicht nach nicht die Bohne interessiert. Nur so viel sei gesagt: Das Zentrum des genannten Raumes bildet ein schweres, großflächiges, rotseiden bezogenes Doppelbett, das den spontanen Eindruck enormer Bequemlichkeit und Stabilität hervorruft. Vor diesem einladenden Möbel nun stehen zwei Personen, ein Mann und eine Frau, die, der erwartungsvolle Leser ahnt es bereits, just im Begriff sind, eben das zu vollziehen, was, wie angekündigt, nachfolgend minutiös geschildert werden soll, einen Beischlaf nämlich.
Wir wissen nicht und wollen nicht wissen, wie die bürgerliche Identität unserer beiden Probanden im Einzelnen aussieht. Vielleicht handelt es sich um ein lang vertrautes Paar, das nach einem ermüdenden Streit von jähem, heftigem Verlangen nach einander ergriffen wurde; möglicherweise haben sich die beiden vor wenigen Minuten in der Hotelhalle zum ersten Mal getroffen, und ein wortloser, elektrisierender Blickwechsel hat genügt, um sie schnurstracks auf dieses Zimmer zu treiben; eventuell ist der Mann ein Spion, der eine seit langem observierte feindliche Agentin verführen will, um ihr staatsgefährdende Informationen zu entlocken, während sie bereits überlegt, wie sie ihm anschließend unbemerkt das Zyankali in den Martini schütten kann. Unwichtig. Egal. Völlig schnurz. Hauptsache, hierin wissen wir uns mit dem lüsternen Leser einig, die Szene läuft auf einen Beischlaf hinaus.
Also weiter: Der Mann, wir wollen ihn Friedhelm nennen, und die Frau, sie soll Waltraud heißen, haben soeben damit begonnen, sich wechselseitig die Kleidungsstücke von den bereits brünstig erhitzten Leibern zu streifen. Die Beteiligten legen hierbei eine für derlei Situationen charakteristische Mischung aus Leidenschaft und Ungeschicklichkeit an den Tag, so dass die Aktion phasenweise in einem eher kontraproduktiven Genestel und Gezerre zu erlahmen droht, aber schließlich ist es soweit: Waltraud hat Friedhelms Ringelsocken in hohem Bogen auf den Bettvorleger geschleudert und neigt nun ihren hübschen Kopf, auf dass der Gefährte ihr mit zitternden Händen das Haarband löse. Nachdem dies geschehen ist, stehen die beiden Beischläfer in spe aller Textilien ledig voreinander; sie sind, um es unverblümt und in einem Wort auszusprechen, splitterfasernackt (Leser mit entsprechenden Neigungen dürfen sich an der Vorstellung berauschen, Waltraud habe ihre hochhackigen Pumps anbehalten; die anderen denken sich die Pumps weg).
Der jetzige Moment ist für Friedhelm und Waltraud wie für jedes andere Liebespaar in gleicher Lage ein höchst spannungsvoller: Im Schein der von Friedhelm vorsorglich etwas gedämpften Zimmerbeleuchtung bietet sich der bislang verborgene und um so inniger ersehnte Anblick leicht schweißglänzender Körper mit den dazugehörigen primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen der hemmungslosen Betrachtung dar. Friedhelms hochgewachsene, leicht gebräunte Leiblichkeit zeigt sich jetzt in ihrer ganzen Sehnigkeit, Behaartheit und Plattfüßigkeit; Waltraud hingegen erweist sich als üppig, stellenweise geradezu überquellend und rundherum samthäutig (ein Ausdruck wie „samthäutig“ ist streng genommen allerdings ebenso ungenau wie abgeschmackt, dürfte aber die beabsichtigte erotisierende Wirkung gerade auf den unbedarften, in stilkritischer Hinsicht wenig vorgebildeten Durchschnittsleser eben deshalb kaum verfehlen).
Die erwähnten Schlüsselreize lösen nunmehr, wir wollen einmal von einem idealtypischen Ablauf ausgehen, die vorgesehenen Effekte aus; Drüsen, Hormone und Sekrete entfalten ihre tumultuarischen Aktivitäten, die Pulsfrequenz der Beischlafpartner erhöht sich nachhaltig, Friedhelms Ein- und Ausatmen ist recht vernehmlich geworden, und Waltraud piepst mehrfach in einer ihr selbst fremden Tonlage „Huch!“ und „Ach Gott!“ Die Probanden umhalsen sich daraufhin zunächst zögerlich, erschauern gelinde unter der Erstberührung und lassen sich endlich wie in Trance in die rotseidenen Kissen fallen; das heißt, Friedhelm fällt auf einen der Bettpfosten und zieht sich einen gewaltigen blauen Fleck am rechten Oberschenkel zu. Dann, unter der warmen Bettdecke, werden Friedhelm und Waltraud plötzlich höchst agil und legen mächtig los: Da wird gedrückt, geklammert, gepresst, geschmatzt und was dergleichen mehr ist, dass es eine Art hat.
Irgendwann geht das Ganze in eine gleichförmig-rhythmische Bewegung über; wer’s erlebt hat, weiß Bescheid, die anderen kennen’s ja wohl vom Fernseher her. Zwischendurch verlangsamt sich das Tempo noch einmal; waren die drei Gläser Cognac, die Friedhelm sich zu Enthemmungszwecken reingepfiffen hat, vielleicht doch zu viel? Aber die kundige Waltraud gräbt ihre spitzen Fingernägel tief in seine linke Gesäßhälfte, es durchfährt ihn schmerzhaft und zugleich seltsam süß, und weiter geht’s, schneller als zuvor. Ja, und dann kommt für beide der Moment, den in Worte zu fassen glücklicherweise noch keinem Sterblichen gelungen ist, jener kleine Spasmus, der doch zugleich irgendwie kosmisch … oh Wonne, Weh, Welt, woher, wohin, Wadenkrampf, wohl, so wohl … Ermattung. Stille. Was tut Friedhelm? Der zündet sich doch tatsächlich eine Zigarette an! Waltraud muss noch mal schnell zum WC, das Zähneputzen verschiebt sie auf morgen, dann kommt sie wieder unter die Decke, schmiegt sich tief in Friedhelms Achselhöhle, und beide entschlummern selig. Tja, lieber Leser, so viel für diesmal zum Thema Beischlaf.
CHRISTIAN MAINTZ