piwik no script img

Archiv-Artikel

„Keine Märtyrer“

Wie frei und unparteiisch sind die Medien in der arabischen Welt? Fragen an Nabil Chatib, Chef vom Dienst des TV-Nachrichtensenders al-Arabia

InterviewAdrienne Woltersdorf

taz: Herr Chatib, Ihr Sender war früher in London angesiedelt. Vor zwei Jahren suchte er einen Standort in der arabischen Welt. Welcher – außer Dubai – kam in Frage?

Nabil Chatib: Keiner. Es gibt sonst keinen Platz für freie Medien in der arabischen Welt, noch nicht.

Was ist hier anders?

Unsere Unternehmensgruppe zog 2002 in die Dubai Free Zone, weil uns versichert wurde, dass wir frei sind über das zu berichten, was wir für richtig halten. Vorausgesetzt, wir halten uns an die Regularien, die sich nicht von denen unterscheiden, die in Deutschland oder den USA gelten. Das heißt, wir dürfen nicht für Tabak, Gewalt gegen Frauen und Kinderpornografie werben. Politische Restriktionen gibt es hier nicht.

Das ist keineswegs die Regel. Wie arbeiten die Medien in arabischen Ländern sonst?

Al-Dschasira waren die ersten, die begannen, Meinung zu artikulieren – Meinung über Tabus. Das war ein Schritt nach vorne, obwohl es nicht die Grundvoraussetzungen brachte. Nämlich freien Zugriff auf Informationen und die Freiheit, Informationen zu verbreiten. Das muss sich hier erst noch entwickeln.

Was meinen Sie genau?

Es sind zwei Paar Schuhe, moderne Medien fernab der staatlichen Kontrolle zu gründen und sie dann nicht frei und ungehindert berichten zu lassen. Es gibt in der gesamten arabischen Welt keine Verfassung, die Regierungen dazu verpflichtet, die Öffentlichkeit zu informieren. Im besten Fall können die Medien die Offiziellen um Kooperation bitten, mehr nicht. Außerdem fehlen die rechtlichen Mechanismen, die Journalisten beschützen, wenn sie heikle Informationen veröffentlichen. Daher gibt es keine wirklich freie Presse, weil es keinen freien Zugang zu Informationen gibt.

Wie unterscheidet sich Ihr journalistisches Konzept von dem von al-Dschasira?

Al-Dschasiras Hauptziel ist es, populär zu sein. Wir bemühen uns, von der arabischen Rhetorik Abstand zu nehmen. Zum Beispiel das Wort „Märtyrer“, das al-Dschasira für jeden verwendet, der in den palästinensischen Gebieten getötet wird – aber nicht für getötete Iraker. Das ist verwirrend, daher benutzen wir diesen Begriff überhaupt nicht. Der frühere Chefredakteur von al-Dschasira fragte mich mal: Wer ist in Palästina beliebter? Ich antwortete ihm: Natürlich al-Dschasira! Sie versuchen populär zu sein, ungeachtet der ethischen Bedenken.

Und Ihr Gegenentwurf?

Wir versuchen, rational zu sein. Wir sind uns bewusst, dass es in der arabischen Welt an einer rationalen Denkart über das, was vor sich geht, mangelt. Wir bieten den Leuten nicht automatisch das an, was sie hören wollen.

Wie gehen Sie mit Videobotschaften zum Beispiel von Ussama Bin Laden um?

Unsere Redaktion hat entschieden: Kein Video wird ganz gesendet. Wir senden nur die Passagen, die Nachrichtenwert haben, die Propaganda senden wir nicht. Wir senden auch keine Ankündigung eines Ultimatums, denn dann würden wir dazu beitragen, den Countdown zu starten. Diese Regelung hat dazu geführt, dass wir nicht die Adressaten solcher Gruppen sind. Denn die suchen nach Medien, die sich benutzen lassen.

Hilft al-Arabia, die arabische Welt zu demokratisieren?

Wir tragen dazu bei. Insgesamt denke ich, fehlt das Verlangen nach einer freien Presse. Deshalb kann man von den Medien hier nicht das verlangen, was man von ihnen in Deutschland oder Frankreich verlangen kann. Ich vergleiche unsere Situation mit der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Westeuropa.

Welches Interesse hat denn Ihr Geldgeber, Herr al-Ibrahim, daran, Demokratie zu fördern?

Ich denke, Unternehmer haben ein Interesse an kulturell offenen Gesellschaften. Vielleicht denken sie, dass das für sie politisch und damit wirtschaftlich von Nutzen ist. Der Kapitalismus hat liberale Sichtweisen mit sich gebracht. Der Prozess der Demokratisierung in der arabischen Welt ist schließlich keine französische Revolution, vielmehr gibt es einige, die Veränderungen wollen, andere nicht.