Die Talkshow als zweites Trauma

Wenn Opfer in den Medien von ihrem Unglück erzählen, droht ein Flashback. Ein Psychologe des Auswärtigen Amts warnt vor „dramatischen“ Folgen

AUS BERLIN ASTRID GEISLER

Sie reden weiter, wenn die Reporter sich in Floskeln wie „unbeschreiblich“ oder „beispiellos“ oder „nicht in Worte zu fassen“ flüchten. Sie setzen sich in Talkshows. Sie lassen Kamerateams, Fotografen und Zeitungsleute in ihre Wohnzimmer, wiederholen ihre persönlichen Grauensgeschichten wieder und wieder. Warum bloß? Den Fachleuten im Krisenstab des Auswärtigen Amtes fällt die Diagnose leicht: Die Betroffenen der Flutkatastrophe gieren nicht nach dem großen Medienauftritt, sie zeigen eines von vielen Symptomen, das typisch ist für schwer traumatisierte Menschen.

„Viele Opfer, auch Helfer, haben das Bedürfnis, ununterbrochen über das Erlebte zu reden“, erläutert der leitende Notfallpsychologe aus dem Krisenstab des Außenministeriums. „Sie hoffen, auf diese Weise die Bilder loszuwerden.“ Und natürlich mangelt es nicht an Interessenten, die scharf sind auf genau diese Betroffenenberichte. Seit dem Seebeben im Indischen Ozean stehen Journalisten Schlange, um aufzuschreiben und zu filmen, was auch immer sich die Überlebenden, Angehörigen und Helfer an Grauensgeschichten von der Seele reden wollen.

Für die Betroffenen jedoch könnte das öffentliche Erzählen nicht die erhoffte Erleichterung bringen, warnt der Notfallpsychologe vom psychosozialen Dienst des Auswärtigen Amts, sondern „dramatische“ langfristige Folgen haben: „Eine Talkshow ist kein therapeutischer Raum. Das Erzählen kann eine Retraumatisierung bewirken, also einen Flashback.“ Sein Rat lautet deshalb: Die Betroffenen sollten sich „sehr gut überlegen“, ob sie sich wirklich ein Interview zumuten wollen.

Der Mediziner weiß, wovon er spricht. Er hat nicht nur in den vergangenen Tagen Tsunami-Opfer persönlich betreut, sondern viele andere Betroffene zuvor: Überlebende des Anschlags auf das World Trade Center zum Beispiel oder Opfer von Geiselnahmen. Er wundert sich nicht mehr, wenn Überlebende oder Angehörige unmittelbar nach der Katastrophe erstaunlich gefasst wirkten. Ein „Selbstschutz von Geist und Seele“, sagt er. Ließen sie die Macht der Bilder an sich heran, „würden sie davon zerschmettert“.

Oft dauert es Tage, manchmal sogar Wochen oder Monate, bis Katastrophenopfern klar wird, dass sie das Erlebte allein nicht bewältigen könnte. Für sie hat die Bundesregierung vor knapp zwei Jahren „Noah“ geschaffen, die Koordinierungsstelle zur „Nachsorge, Opfer- und Angehörigen-Hilfe“ in Bonn. Mehr als 6.000 Mal haben die Telefone im Krisenstab von Noah seit dem 26. Dezember geklingelt. Die Hotline für Opfer und Angehörige wurde auf sechs Mitarbeiter aufgestockt. Rund um die Uhr sind Fachleute erreichbar.

Unmittelbar nach der Katastrophe war vor allem konkrete Hilfe gefragt: Noah durchforstete für besorgte Angehörige die Passagierlisten von Fluglinien und Bundesgrenzschutz nach den Namen von Vermissten. Die Helfer organisierten Seelsorge-Angebote für etwa 1.000 der Rückkehrer, die auf deutschen Flughäfen landeten und betreuten Trauernde, die auf die Särge ihrer Angehörigen warteten. „Jetzt werden wir immer mehr nach psychologischer Hilfe gefragt“, berichtet eine Koordinatorin aus dem Nachsorgestab.

„Hoch belastet“ seien zum Beispiel Überlebende, die in den Fluten entscheiden mussten: Halte ich mich selbst fest oder reiche ich jemand anderem die Hand? Nach der durchlebten Naturkatastrophe hätten viele Überlebende „das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Welt verloren“, sagt die Psychologin. Von Noah können sie zum Beispiel erfahren, welcher Therapeut in ihrer Heimatstadt die nötige Qualifikation zur Betreuung von Katastrophenopfern hat – und möglichst auch noch einen freien Platz.

Mittelfristig will Noah den Betroffenen zudem bei der Organisation von Selbsthilfegruppen zur Seite stehen und Kontakte unter denjenigen vermitteln, die ihr Schicksal teilen.

Auch im Tsunami-Krisenstab des Auswärtigen Amts haben sich die Psychologen darauf eingestellt, dass ihre Hilfe noch lange nötig sein wird. Denn viele Urlauber aus Deutschland dürften auf Dauer vermisst bleiben. Für ihre Familien macht das die Trauer schwierig. Die Erfahrung zeige, dass die Ungeduld nach 14 Tagen bis drei Wochen oft ein kaum noch erträgliches Ausmaß erreiche, erklärt der Notfallpsychologe aus dem Auswärtigen Amt. „Aus tiefster Verzweiflung heraus“ könnten sich Angehörige entschließen, doch noch auf eigene Faust im Katastrophengebiet nach Vermissten zu suchen. Das Außenministerium rät davon angesichts der aussichtslosen Lage „dringend“ ab.

Eine spätere Reise an den Ort des Geschehens kann für Trauernde auch ein Weg sein, um Abschied zu nehmen. Die Fachleute im Krisenstab des Auswärtigen Amts sind darauf eingestellt. In Phuket soll deshalb eine Beratungsstelle mit geschulten Seelsorgern aus Deutschland noch länger offen stehen.