Mit Schillerkragen und kurzen Hosen

Was hat er nur, was andere Klassiker nicht haben? Friedrich Schiller jedenfalls feiern die Deutschen immer wieder gern. Auch jetzt gerade mal wieder – schon Monate vor dem 200. Todestag im Mai dieses Jahres. Liegt es gar daran, dass die Kunst, sich im Ton zu vergreifen, keinen so beherrschte wie ihn?

In vier Jahren gilt es, Friedrich Schillers 250. Geburtstag zu begehen. Soll man bis dahin einfach durchfeiern?

VON JÜRGEN BUSCHE

Goethe hat immerhin Lieder wie das „Heideröslein“ geschrieben, von Kleist gibt es die „Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege“, von Lessing manche niedliche Fabel, von Büchner auch „Leonce und Lena“. Nichts dergleichen gibt es von Schiller. Aber die Kunst, sich im Ton zu vergreifen, beherrschte keinen so wie ihn. Bei Fontane muss man die Assoziation mit dem schmutzigen Hemd schon kennen, um bei der ersten Zeile des Archibald Douglas „Ich hab es getragen sieben Jahr“ herzlich oder gelangweilt zu schmunzeln. Schiller ist da direkter, er führt seine Götter Griechenlands gleich am Gängelband ein, und auch wenn das angenehmerweise das Gängelband der Freude ist – „Freude, schöner Götterfunken“, heißt es anderswo –, so bleibt doch ein Gängelband immerdar ein Gängelband und wirkt etwas lächerlich.

„Friedrich Schiller – wir fragen: Was will er?“, reimten die frechen Frühromantiker, und Rüdiger Safranski hat soeben, 199 Jahre nach dem Tod des Dichters, eine Antwort auf ihre Frage gegeben: Er wollte „ich“ sagen. Damit, so der Biograf, habe er den deutschen Idealismus begründet. Über diese Ansicht hätten allerdings die Freunde Schellings noch mehr gelacht als über Schillers „Glocke“, vielleicht zu Unrecht. Schillers Vermögen, die Deutschen zu begeistern, ist eine der Tatsachen, die man allein mit Superlativen zutreffend beschreiben kann. Dazu gehört auch seine Begeisterung für Immanuel Kant. Philosophie und große Dichtung schienen plötzlich Arm in Arm daherzukommen. Das fanden die Deutschen kolossal.

Arm in Arm werden gern Goethe und Schiller vorgestellt, die Weimarer Olympier. Schillers Anteil an diesem Bild ist bedeutend. Ihm vor allem war es auch um dieses Bild als Tagwerk seines Lebens gegangen. Wer in Schwaben geboren ist, bekommt früh eingeschärft, dass er später etwas Rechtes werden müsse. Dichter an der Seite Goethes war da schon besser als Dramenschreiber bei den liederlichen Leuten vom Theater, die er in Mannheim kennen gelernt hatte.

Und so ging er planmäßig wie eine Figur von Maupassant zu Werke, um sich dem verehrten Autor des „Werther“ beliebt zu machen. Er hatte es nicht nötig, wie Adele Schopenhauer den Weg zu Goethe über Freundlichkeiten gegenüber seiner nicht standesgemäßen Lebensgefährtin Christiane zu suchen. Im Gegenteil, als er zum ersten Mal für einige Tage bei Goethe zu Gast war, musste die Frau in der Küche bleiben. Um Goethes willen lehnte es Schiller auch ab, finanziell weitaus besser ausgestattet als beim Großherzog in Weimar in Berlin die Residenz des Preußenkönigs zu veredeln. Zwischendurch – der Friede mit dem einst verhassten Monarchen in Württemberg rückte näher – wäre auch eine Professur in Tübingen möglich gewesen. Wie anders wäre die deutsche Geschichte verlaufen, wenn der Marbacher dieses Angebot angenommen hätte.

Die Schiller-Feiern zum 100. Geburtstag 1859, die ganz Deutschland in einen patriotischen Taumel versetzten, hätte es dann wohl nicht gegeben, trotz der „Räuber“, trotz des Rührstücks „Kabale und Liebe“, dem die Deutschen die abscheulichste Inkarnation des Bösen verdanken, die ihre Literatur kennt: den Intriganten Wurm. Und trotz des sperrigen „Don Karlos“, dem die Deutschen das ihnen eigentümlichste Bekenntnis zur Sehnsucht nach Freiheit verdanken, das für ihre Theater je formuliert wurde: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit.“ Freiheit als etwas, das einem gegeben werden muss, gegeben von einer Obrigkeit, die hernach auch Obrigkeit bleibt und im Zweifelsfall für Ordnung sorgt. Aber Gedankenfreiheit?

Als in der Nazizeit, so weiß Marcel Reich-Ranicki zu erzählen, bei einer Berliner Aufführung des „Don Karlos“ nach diesem Zitat minutenlang applaudiert wurde, trug man die Causa doch vor den Propagandaminister Joseph Goebbels. Der beschied seine Bedenkenträger: An dieser Stelle wird bei jeder „Karlos“-Aufführung in der ganzen Welt geklatscht. Also auch bei uns. Gegenüber dem „Tell“, Schillers letztem vollendeten Stück, war man dann allerdings nicht mehr so moderat. Aber da wurde auch ein Tyrann ermordet und die Tat glorreich gerechtfertigt. Als Professor in Tübingen hätte Schiller den „Tell“ wahrscheinlich gar nicht geschrieben.

Warum liebten die Deutschen einst Schiller über die Maßen? Goethe war ihnen patriotisch suspekt – Schiller war von den Revolutionären in Frankreich zum Ehrenbürger der Republik gemacht worden. Aber das zählte nicht, da war Schiller jung gewesen und die Republik war sowieso nichts Ernstes. Aber Goethe hatte Napoleon bewundert, der war schließlich Kaiser und besetzte mit seinen Truppen Deutschland. Das war schon eine andere Sache. Lessing stand bei vielen Deutschen in Atheismusverdacht. Vor solcher Missdeutung, die gar nicht so falsch gewesen wäre, schützte den Dichter die Nähe zum vorsichtigen Kant. Und die Abendmahlsszene der katholischen Maria Stuart schlägt das bußfertige Gretchen im Kerker natürlich um Längen.

All das war den Deutschen 1859 feierlicher Gemeinbesitz. Hölderlin, Kleist, Büchner waren wenig präsent. Man hätte es für ein Sakrileg gehalten, den durch Selbstmord geendeten, abgemusterten Offizier und gescheiterten Boulevardjournalisten Kleist Schiller an die Seite zu stellen – auch wenn der ein Jahrzehnt später geführte Krieg gegen Frankreich ein deutsches Gemüt offenbar werden ließ, das weniger Schiller’schen Superlativen als Kleist’schem Furor entsprach. Aber Kleist fehlt alles Feierliche. Eben damit kann Schiller dienen, wann immer danach verlangt wird. „Seid einig, einig, einig“, heißt es im „Tell“. Wer hätte das je so schön gesagt? „Einigkeit und Recht und Freiheit“ – beginnt die dritte Strophe der deutschen Nationalhymne, erst die dritte Strophe und erst seit etwa 50 Jahren ist sie Nationalhymne. Doch feierlicher klingt es bei Schiller. Es geht nicht immer so einfach zu bei dem gelernten Mediziner, aber immer erhebend. So klingt es in den großen Balladen: „Ich sei, gewährt mir die Bitte / In Eurem Bunde der dritte“ oder: „Man reißt und schleppt sie vor den Richter / Die Szene wird zum Tribunal“, schließlich: „Hier wendet sich der Gast mit Grausen. / So kann ich hier nicht ferner hausen.“

Schillers Verse wirken wie der nach ihm benannte Schillerkragen, und viele erinnern sich heute noch daran, wie schön Rudolf Bahro ihn trug. Die Deutschen, das ist der Ausgleich für ihren Methodenehrgeiz, ihre Disziplin, ihren Arbeitsernst, lieben das Leben in kurzen Hosen. Ihr Lieblingsfilm ist die „Feuerzangenbowle“, hier darf ein erfolgreicher Schriftsteller zum Zwecke nachgeholten Schulbesuchs noch einmal in kurzen Hosen herumlaufen, im übertragenen Sinne natürlich. Und es wird fleißig Schiller zitiert, er ist der einzige Dichter, der hier im Deutschunterricht zitiert wird, und zwar aus dem „Don Karlos“ und dem „Wallenstein“. Der Schillerkragen ist das erhabene Pendant zur kurzen Hose.

Das Schiller-Jubiläum 1955 gestaltete sich weitaus gedämpfter als frühere Gelegenheiten. An dem verlorenen Zweiten Weltkrieg kann das nicht gelegen haben, denn immerhin war man ja kurz zuvor Fußballweltmeister geworden – in kurzen Hosen. Vielleicht lag es daran, dass Thomas Mann als alles überragender Festredner zwar einerseits unumgänglich, aber andrerseits im Herzen unerwünscht war. Auch hatte es der nur nach Europa, nicht aber nach Deutschland zurückgekehrte Emigrant für richtig gehalten, zeitnah sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR – in Stuttgart und in Weimar – zu reden.

So war es diesem Jubiläum beschieden, gleichsam als Lücke in der Erinnerungskultur fortzuleben, eine Lücke, die anlässlich des vier Jahre später zu begehenden 200. Geburtstags nicht geschlossen werden konnte. Auch von daher mag sich das aktuelle Übermaß an Schiller-Büchern lange vor dem anvisierten Datum des 200. Todestages im Mai dieses Jahres erklären. Der sichtbehindernde Damm, den das verlegene Schweigen über diesen Klassiker in vielen Jahren geschaffen hatte, musste endlich unter beispiellosem Getöse brechen. Was wird in vier Jahren sein, wenn es gilt, Schillers 250. Geburtstag zu feiern? Oder sollte man jetzt einfach durchfeiern, wie es der Theaterkritiker Benjamin Henrichs schon in der Süddeutschen vorschlug?

Man kann das tun oder lassen, es wird sich nichts daran ändern, dass auch das vereinigte Deutschland in Georg Büchner seinen bevorzugten Dichter verehrt. Büchner hat einen scharfen und mitleidsvollen Blick für das Elend in der Welt („Woyzeck“), er hat ein Faible für Albernheiten („Leonce und Lena“ – eine weitere Variante zum Thema kurze Hosen), und er hat das Drama geschrieben, das die politische Bewusstseinslage vieler Deutscher nach 1960 vorzüglich in ergreifende Bilder setzt: Sie lieben die Revolution, aber sie glauben nicht an sie („Dantons Tod“). Als Identifikationsfigur für einen wie immer prekären Genius des Nationalen im Europa der Nationen scheint Büchner immer noch willkommener zu sein.

Aber was kann schon das Schillerjahr 2009 bedeuten: 2009 wird es 2.000 Jahre her sein, dass Hermann der Cherusker im Teutoburger Wald die Römer schlug. Zwei Jahre später – 2011 – wird des 200. Todestages Heinrich von Kleists zu gedenken sein. Wie die Dinge heute ablaufen, wird man damit unmittelbar nach der Hermannsschlacht beginnen. Spätestens dann hat Schiller wieder für 45 Jahre Ruhe.