: Der Sonderschulschinken
„Das Buch der Deutschen“ – ein schwarzrotgoldenes Nationalwerk wie aus Gussstahl
Wie es begann, wie alles anfing, wer weiß es noch? Als vor einigen Jahren Marcel Reich-Ranicki seinen Literaturkanon vorstellte, ahnte niemand das Unheil. Mehrere Zeitungen forcierten ihren eigenen Gegenkanon, Verlage kreierten Kassetten, das Publikum ächzte. Dann kam die große Zeit der Was-man-wissen-muss-und-was-man-lesen-muss-Konzentrate, der Quizshows und Unsere-Besten-Serien, eine Art TV-Examen für die immerwährende Grundschule des Lebens.
Es folgten die ausufernden Bibliotheken, die Süddeutsche und Bild dem Markt als besonders leicht verdauliche Brocken einverleibten. Und während dies alles geschieht, sitzt ein Mann emsenfleißig an seinem Schreibtisch und hat nur ein Ziel: ein Buch, ein einziges Buch zusammenzustellen, das die Sammel- und Ordnungsfantasien aller anderen untergräbt und gleichzeitig übergipfelt – „Das Buch der Deutschen“. Ein Werk wie aus einem Gussstahl, mehrere Bruttoregister-Kilo, der Einband schwarzrotgolden, ein nationaler Besinnungsziegel, und er enthält nicht weniger als, wie der Untertitel meldet, „alles, was man kennen muss“.
Johannes Thiele heißt der Mann. Er ist Programmchef des Lübbe Verlages und wollte ursprünglich Showmaster, Politiker und den Bundespräsidenten als Herausgeber des „Buchs der Deutschen“ gewinnen. Doch niemand, nicht einmal Johannes B. Kerner, der kürzlich sogar die Teller des Kanzlers ableckte, damit er sich darin spiegeln konnte, hatte Appetit auf diesen mehrere Jahrhunderte geschmorten Sonntagsbraten. Thiele musste es selbst machen, und er tat es!
Wer alles sammeln will, was sich in der deutschen Geschichte angesammelt hat und was man kennen muss, und dafür nur 800 Seiten zur Verfügung hat, muss eigentlich alles weglassen, er muss kürzen, verstümmeln, zeitliche und inhaltliche Zusammenhänge ignorieren und von dem, was dann übrig bleibt, noch einmal circa 150 Prozent streichen. Thiele hat das mit einzigartiger Bravour erledigt.
Herausgekommen ist ein Buch, das einen weiten Bogen überspannt von Herbert Tacitus bis Cornelius Grönemeyer. Ein Buch, das nun tatsächlich alles dichtgedrängt versammelt, was man überhaupt nicht kennen muss, sei es, weil es einem schon zum Halse raushängt, sei es, weil es gröblich verkürzt ist, oder sei es, weil man es in dieser beflissenen Ausführlichkeit nie zu kennen begehrte. So enthält der Band sämtliche der 95 Thesen Martin Luthers, die komplette Rede Richard von Weizsäckers zum 8. Mai 1945, alle deutschen Sprichwörter und Redensarten, die Ansprache von Helmut Kohl vor der Dresdner Frauenkirche 1989, umfassend die Artikel der Paulskirchenverfassung mit den Stimmverhältnissen aller Mitgliedsstaaten, das Testament Karls des Großen sowie die Düsseldorfer Leitsätze des CDU-Programms von 1949.
Schlecht weggekommen hingegen ist im Vergleich zur dumpfen Beamtenprosa die Literatur. Walther von der Vogelweide grausam übersetzt und stranguliert. Friedrich Gottlieb Klopstock, vertreten bloß mit seinem „Vaterlandslied“. Das Nibelungenlied, auf zwei Seiten gekürzt. Kurt Tucholsky, kommt zum Zuge mit seinem Gedicht „Mutterns Hände“, das nun wirklich niemand nicht kennt. Friedrich Schillers „Lied von der Glocke“, selbstverständlich komplett. Heinrich Heines „Deutschland, ein Wintermärchen“, selbstverständlich nur die ersten Strophen. Am Schluss der Jahrtausendsammlung befindet sich dann Grönemeyers Lied „Mensch“, ein brutalstmögliches Bekenntnis zum Sonderschulweg der deutschen Geschichte.
Je näher das Buch der Gegenwart kommt, um so bürokratischer und lebloser die Textsorte. Das Zehn-Punkte-Programm Kohls, die Erklärung des Politbüros der SED, Presseerklärungen zum Fall der Mauer, der Einigungsvertrag, Roman Herzogs Ruckrede – selten standen so viele zähe, grundunsympathische und sackdumme Buchstabenkohorten so eng beisammen.
Zum Schluss die stets gern beantwortete Frage: Wo bleibt das Positive? Das „Buch der Deutschen“ mag nicht alle in es gesetzten Ansprüche einwandfrei erfüllen, ein Buch der Deutschen ist es. Vollständigkeitswahn, Aktenfimmel, vaterländisches Gewürge und Züchtigungsexzesse – alles das, was die deutsche Geschichte im Übermaß aufbietet, prägt auch dieses Werk. So gesehen hat Johannes Thiele, der Herausgeber, einen exquisiten Job gemacht. RAYK WIELAND
Johannes Thiele: „Das Buch der Deutschen“. Lübbe 2004, 24,90 €