: Kinderwahlkampf auf der Straße
Erster Volksentscheid in Sachsen-Anhalt: Dürfen auch Kinder von Arbeitslosen ganztags in die Krippe?
DRESDEN taz ■ „Am besten fände ich es, wenn die Familien den Sonntag auch dazu nutzen würden, Kinder zu machen.“ So ließ sich Sachsen-Anhalts Sozialminister Gerry Kley (FDP) zur Frage vernehmen, was er beim bevorstehenden Volksentscheid empfiehlt. Am kommenden Sonntag sollen reichlich 2 Millionen Wahlberechtigte darüber entscheiden, ob Sachsen-Anhalt zur früheren Regelung eines Ganztags-Betreuungsanspruches für alle Krippenkinder zurückkehrt.
Die Landesregierung hatte 2003 den Betreuungsanspruch für Kinder von Arbeitslosen eingeschränkt. Daraufhin sammelte das „Bündnis für ein kinder- und jugendfreundliches Sachsen-Anhalt“ im Vorjahr erfolgreich Unterschriften für ein Volksbegehren. Nach dessen Ablehnung im Landtag war der Weg frei für den ersten Volksentscheid in dem kleinen Bundesland.
Die Äußerungen des Sozialministers sind bislang der Gipfel einer Regierungskampagne gegen den Volksentscheid. Die grüne Landessprecherin Inés Brock, selbst Mutter von vier Kindern, bezeichnete sie als „niveaulos und des Ministeramtes unwürdig“. Mit einer halben Million Euro unterstützt die CDU-FDP-Regierungskoalition die Gegenwerbung. Mittel, die die PDS lieber für einen kommunalen Familienpass eingesetzt sähe. Der Landesregierung geht es vor allem um die 40 Millionen Euro, die eine Rückkehr zum alten Kinderbetreuungsgesetz kosten würde.
Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) verwies auf den Spitzenstandard der Kinderbetreuung von Sachsen-Anhalt im bundesweiten Vergleich. Bei einem erfolgreichen Volksbegehren müssten Haushaltsmittel zu Lasten anderer Bereiche umgeschichtet werden. Das Beispiel könne Schule machen, Partikularinteressen auf Kosten anderer durchzusetzen. „Diejenigen, die behaupten, wir würden jetzt schon Geld gesetzeswidrig verplempern, werden sich bestätigt fühlen“, warnte Böhmer. Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) hatte kürzlich kritisiert, dass die meisten Ostländer die Mittel aus dem Solidarausgleich nur für Personal ausgeben und nicht für Investitionen.
Unterstützung bekam die Landesregierung auch vom Landesverfassungsgericht. Es stellte im November fest, dass Halbtagsplätze für Kinder von nicht Berufstätigen verfassungskonform seien. Inzwischen formierte sich auch eine Bürgerinitiative gegen Ganztagsbetreuung.
Bei einer Niederlage am kommenden Sonntag befürchten die Initiatoren des Volksentscheids, dass bei der Kinderbetreuung noch in diesem Jahr weiter gekürzt werden könnte. Ohnehin habe sich die Betreuungssituation durch Schließung von Kindertagesstätten, Entlassung von Personal und lange Wege schon deutlich verschlechtert. „Wollen wir schon bei Kleinstkindern eine Selektion vornehmen?“, fragt auch Eva von Angern, jugendpolitische Sprecherin der PDS-Landtagsfraktion. PDS, Grüne und die Unterstützer des Bündnisses planen bis zum Wochenende noch zahlreiche Straßenaktionen. „Geiz ist kurzsichtig“, plakatieren etwa die Grünen. Deren Bundesvorsitzende Claudia Roth warnte gestern noch einmal vor einem „falschen Signal“ aus Sachsen-Anhalt. MICHAEL BARTSCH