Ein Appell, Tschetschenien nicht zu vergessen

Barbara Gladysch reist seit 1996 regelmäßig nach Tschetschenien, um das Projekt „Kleiner Stern“ für traumatisierte Kinder zu unterstützen. Ihre aktuellen Eindrücke schildert sie dem Arbeitskreis „Internationales“ der Kölner Grünen

Köln taz ■ Das Thema „Tschetschenien“ lockt zur Zeit keine Massen. Außer dem Dutzend Mitglieder des Arbeitskreises „Internationales“ der Kölner Grünen sitzen nur wenige „parteifremde“ Besucher im Parteibüro am Ebertplatz, darunter ein Osteuropa-Experte und eine Frau, die Flüchtlinge betreut.

Eine Karte und drei riesige Mappen mit Fotos machen die Runde, während Barbara Gladysch spricht. Seit 1996 reist die Initiatorin der Nicht-Regierungsorganisation „Mütter für den Frieden“ regelmäßig nach Tschetschenien. Die Fotos zeigen ein zerschossenes Grosny und Kinder in Ruinen, manchmal auch in den Räumen des Projekts „Kleiner Stern“. Dort können die Kinder der tschetschenischen Hauptstadt spielen, toben, malen, einfach Kinder sein – in einem Land, das seit 1994 von blutigen Auseinandersetzungen zwischen russischer Militärverwaltung und tschetschenischen Rebellen geprägt ist, keine Selbstverständlichkeit.

Eine Fotoserie zeigt den Ort, der den Tschetschenien-Konflikt zuletzt in die Schlagzeilen brachte: die von Geiselnehmern überfallene Schule in Beslan in Nordossetien. Auf ihrer letzten Reise im Oktober 2004 hat Gladysch die zerschossene Schule in Beslan besucht und einen Brief überbracht, in dem tschetschenische Kinder den ossetischen Kindern ihr Mitgefühl aussprechen. Mehr sagt sie dazu nicht. „Meine Eindrücke aus Beslan kann ich nicht in Worte fassen.“

Um Worte ist sie sonst nicht verlegen, schildert ihre Eindrücke ruhig und sachlich. Sie berichtet ungeschönt vom archaischen Clansystem der Tschetschenen, den „Taips“, in dem die alten Männer das Sagen haben. Die Zeit der Deportation unter Stalin und über zehn Jahre Krieg haben das Volk zerrissen. „Jeder Tschetschene hat mindestens einen Gegner“, ist ihre Erfahrung. Entweder arrangiert man sich mit der russisch-tschetschenischen Verwaltung oder mit den Rebellen. Ein normaler Alltag ist kaum möglich. „Die Menschen geben ihr Inneres nicht mehr preis. Das Leben ist geprägt von Misstrauen und Argwohn. Viele fliehen, weil sie den Druck nicht mehr aushalten. Hier ist jeder traumatisiert.“

Die Unabhängigkeitsbewegung sammelt sich um Ex-Präsident Aslan Maschadow und den radikalen Schamil Basajew. Beide leben im Untergrund. Barbara Gladysch hofft auf den als gemäßigt geltenden Maschadow, dem sie eine politische Lösung zutraut. Basajew ist ihrer Einschätzung nach verhasst. Terroristen sind in den Augen des Kreml beide, die Tschetschenen nehmen die Russen als die „wahren“ Terroristen wahr und sehen sich in der Verteidigungsrolle. Aber das Schrecklichste für Barbara Gladysch ist, dass die Tschetschenen sich bereits untereinander bekämpfen. Gefürchtet sind die „Kadyrowskis“, die Privatarmee von Ramsan Kadyrow, Sohn des 2004 ermordeten prorussischen Präsidenten Achmad Kadyrow.

Eine passende Staatsform für Tschetschenien kann Barbara Gladysch nicht benennen. Sorgen macht ihr die politische Entwicklung in Russland unter Präsident Putin, der Verhandlungen mit Maschadow strikt ablehnt. Eine Vision für Tschetscheniens Zukunft fehlt. „Aber das Thema müssen wir in Deutschland auf der Tagesordnung lassen.“ ANNETTE VON CZARNOWSKI