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Archiv-Artikel

Die Zeit und Francos Tod

Der spanische Autor Rafael Chirbes unternimmt mit seinem neuen Roman „Alte Freunde“ ein weiteres Mal den Versuch, die Gegenwart Spaniens aus seiner jüngeren Geschichte heraus zu deuten

VON ANNE KRAUME

In seinem Roman „Der lange Marsch“, 1998 in Deutschland erschienen, hatte Rafael Chirbes vom Leben zweier Generationen im franquistischen Spanien erzählt: Die Generation der Eltern hat den Bürgerkrieg als junge Erwachsene miterlebt und muss danach lernen, sich mit ihren düsteren Erfahrungen und zerstörten Illusionen zu arrangieren; die Generation ihrer Kinder wird in den Vierzigerjahren schon in die Diktatur hineingeboren und stellt später das Personal derer, die sich im Madrid der späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre in linksradikalen Gruppen engagieren und gegen die zwar schon verfallende, aber noch immer schlagkräftige Diktatur aufbegehren. Diese Generation ist diejenige, der der Autor Rafael Chirbes selbst angehört. In seinem neuen Roman „Alte Freunde“ entwirft er jetzt ein breit gefächertes Panorama der Entwicklung dieser Generation bis in die Gegenwart hinein.

Man hat sich aus den Augen verloren: Früher, vor dreißig Jahren, war man gemeinsam aus den Dörfern am Mittelmeer oder in der Extremadura nach Madrid gegangen und hatte dort vom Umsturz, von der Revolution und von einer neuen Zeit geträumt. Man hatte eine kommunistische Zelle gebildet, sich bei deren Sitzungen besoffen geredet, man hatte mit Molotowcocktails die Schaufenster der großen Kaufhäuser in Brand gesetzt, war bei Demonstrationen verprügelt worden und nicht zuletzt auch in Francos Gefängnisse gewandert. Dann begann sich die Gruppe allmählich aufzulösen, man traf noch einzelne Freunde, war bei anderen froh, sie nicht mehr sehen zu müssen, und ging neue Bindungen ein. Aus den Revolutionären von einst sind arrivierte Politiker und bewegliche Eurokraten, gediegene Anwälte und skrupellose Bauunternehmer geworden. Jetzt trifft man sich wieder, zu einem Abendessen in Madrid, und nach dem Trinkspruch erklingt ein altes Chanson von Aznavour, in dem nostalgisch der verlorenen Zeit hinterhergeblickt wird: „Où sont-ils, mes vingt ans“.

„Alte Freunde“ ist der letzte Teil einer Trilogie, deren erster Teil „Der lange Marsch“ war und in der Rafael Chirbes den Versuch unternimmt, die Gegenwart Spaniens aus seiner jüngeren Geschichte heraus zu deuten. Den mittleren Teil bildet deshalb mit „Der Fall von Madrid“ ein Roman, dessen Handlung um einige wenige Stunden kreist – die Stunden im November 1975, in denen die Meldung vom Tod Francos erwartet wird. Dieses Ereignis ist eine Art Dreh- und Angelpunkt, für Chirbes’ Bücher mindestens ebenso sehr wie für Spanien insgesamt. Auch in „Alte Freunde“ teilt sich die Handlung in ein Vorher und ein Nachher – das Problem der alten Freunde ist nur, dass sich die Trennlinie zwischen beiden Zeitzonen gar nicht mehr so klar ziehen lässt.

Wann hat alles aufgehört, wann wurde alles anders und warum? Für jeden von ihnen wohl zu unterschiedlichen Zeitpunkten, die wenig mit Ideologien, dafür aber viel mit persönlichen Enttäuschungen zu tun haben und die eher zufällig mit der politischen Entwicklung des Landes zusammenfallen.

Pedrito, der das nostalgische Abendessen organisiert hat, ist in sein Dorf am Mittelmeer zurückgekehrt, als ihn Elisa zurückwies, die der strahlende und kultivierte Mittelpunkt der Gruppe war. Narciso hat im Gefängnis seine Haut gerettet, indem er der Polizei haarklein von allen Aktivitäten der Gruppe berichtet hat, und verschwand kurz darauf. Rita und Carlos haben sich getrennt, als die Kinder noch klein waren, Magda hat ihre Kneipe geschlossen, und Amalia kämpft mit Depressionen, seit Narciso sie im Stich gelassen hat.

Wie schon in früheren Romanen arrangiert Rafael Chirbes seinen ausufernden Stoff zu einer Art Sinfonie, bei der nacheinander die verschiedenen Stimmen einsetzen, sich ergänzen und sich widersprechen. In einzelnen Kapiteln erzählen jeweils unterschiedliche Ich-Erzähler, zuerst Carlos, dann Demetrio, dann Rita, Narciso, Pedrito und Amalia. Jedes Kapitel wird dadurch zu einer kurzen Erzählung, die auch für sich stehen könnte – aber jeder einzelne dieser Monologe wartet doch auch auf seine Ergänzung in dem folgenden. Die Perspektivierung der Geschehnisse, die dadurch zustande kommt, ist Programm: Es gibt eben nicht die richtige Sicht auf die Dinge, es gibt nur viele verschiedene Versuche, sie sich zurechtzulegen und sie so erträglich zu machen. Meistens allerdings bleiben sie unerträglich, und hier sind besonders die Szenen exemplarisch, die in der unmittelbaren Gegenwart spielen: Das nostalgische Abendessen der alten Gefährten geht in einem Stimmengewirr aus Lebenslügen und Geschichtsklitterungen unter, und das Schlimme ist, dass jeder der Beteiligten das weiß. Alle erinnern sich in ihren Monologen an die Wunschbilder und Träume, die sie in ihrer Jugend hatten, und alle wissen, dass sie nur noch ein blasses Zerrbild ihrer einstigen bunten Träume sind.

Dieser Gegensatz zwischen dem Früher und dem Heute, zwischen den idealistischen Wunschvorstellungen und der banalen Realität bildet das formale Rückgrat des Romans, weil er die Trennung in Damals und Heute unmittelbar nachvollziehbar erscheinen lässt. Und dieser Gegensatz ist es, der Chirbes’ Analyse seiner Generation und der spanischen Gegenwart so scharf, so mitleidlos, so desillusionierend und so großartig macht.

Rafael Chirbes: „Alte Freunde“. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Antje Kunstmann Verlag, München 2004, 238 Seiten, 19,90 Euro