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Archiv-Artikel

Am Ausgangspunkt der Todesreise

Mit ihrem „Gedächtnis auf Rädern“ zieht die Künstlerin Ulrike Oeter ab heute eine Woche durch Köln. Sie erinnert mit ihrem mobilen Museum an deportierte Juden und deren Ermordung in der NS-Zeit

Von Claudia Lehnen

Wenn sie zwischen den Toten blättert, klappert und knirscht es. Mit dem Handrücken schiebt Ulrike Oeter eine Reihe Filzkärtchen zu einem dicken Buchrücken zusammen. Es hört sich an, als zöge sie einen Vorhang zurück. Sie gibt so den Blick frei auf Einzelschicksale. Auf Agathe und Frieda, den Lehrer und Dirigenten Kurt, die Kölnerin Martha mit ihren beiden kleinen Töchtern Sophie und Emilie.

Die Historikerin und Künstlerin Ulrike Oeter möchte mit ihrem Wagen an jüdische Deportierte aus dem Viertel um den Kölner Rathenauplatz erinnern. 800 Namen hat sie zu diesem Zweck auf weiße Filztafeln gebügelt, 800 Mal überlegt, welche Geschichte sich hinter dem Namen versteckt hält.

„Spurensuche ohne Spuren“ nennt die 56-Jährige ihre einwöchige Reise durch Köln, die heute am Zülpicher Platz beginnt (siehe Kasten unten). Mit dem selbst gebauten Karren, dem sie den Namen „Gedächtnis auf Rädern“ gegeben hat, will sie einer Marketenderin gleich durch Köln laufen und damit diejenigen an die Judenmorde der NS-Zeit erinnern, die keine Museen oder Ausstellungen besuchen.

Spuren der dunklen Geschichte gebe es heute auf dem Rathenauplatz nicht mehr. Viele Anwohner wüssten gar nicht, dass viele Todesreisen in den Kriegsjahren hier ihren Ausgangspunkt nahmen, erzählt Oeter. „Ich habe selbst 15 Jahre lang dort gewohnt und habe das nicht gewusst. Im Studium haben wir Faschismustheorien gewälzt. Aber was vor unserer Haustür geschah, davon erzählte niemand.“

Ein dicker Draht, der wäscheleinengleich am ochsenblutroten Karren hängt, hat unter der Last der mahnenden Karten seine Standhaftigkeit verloren. Oeter bringt ihn wieder in Position und sagt: „Das hier symbolisiert ein einziges Haus, das so genannte ‚Judenhaus‘ in der Beethovenstraße 16, in das Kölner Juden von den Nazis eingewiesen wurden. 171 Personen sind hier binnen weniger Monate mit einem Koffer hineingegangen und wieder herausgekommen.“

Die Historikerin mit den silbernen Haaren möchte mit ihrem „Gedächtnis auf Rädern“ Fragen in Gang setzen. Sie will, dass Passanten nachdenken, wie lange die Opfer wohl in diesem Haus gewohnt haben, wie das bei so vielen Menschen „mit dem Klo“ funktioniert hat, warum das ständige Kommen und Gehen keinem aufgefallen sein soll.

Neben den hängenden Filzkärtchen hat Oeter ihren Wagen, der von zwei Kinderrollern getragen wird, mit fragilen Erinnerungsstücken besetzt. Da türmen sich hauchdünne Papierschühchen, ein kleiner Altar aus einem Nähkästchen beherbergt ein Stück Fell, einen Löffel, einen Kinderkragen, das Bild eines jüdischen Mädchens, Stempel aus Holz. An der Seite hat Oeter eine alte Hakenleiste für Geschirrtücher angenagelt, im Wagen baumelt ein Kinderhemdchen.

Mit Hilfe dieser Stücke möchte die Künstlerin erreichen, dass das Erinnern nicht nur im Kopf stattfindet, sondern auch einen Weg in die Seele findet. „Das Anfassen und Anfühlen ist wichtig.“ Wie ein Puppenhäuschen sieht der Wagen mit all seinen liebevoll gestalteten Details aus. Ein eigentlich viel zu hübsches Erinnerungsstück, wenn man bedenkt, dass es an solch unmenschliche Taten erinnern soll. „Aber dadurch erreiche ich zumindest, dass man darüber spricht“, sagt sie. Außerdem sei gerade die „Puppigkeit“, die ins Grauen umkippe, ein Kontrast, der künstlerisch reizvoll sei.

Gerade auf der Straße ist Oeter den Emotionen der Menschen direkt ausgeliefert. Auch Kommentare wie „lasst das doch endlich einmal ruhen“ wird die ehemalige Lehrerin und Kunsttherapeutin zu hören bekommen. Bei aller Zivilcourage ist ihr auch ein wenig mulmig. „Ich werde mir jemanden mitnehmen. Um mich selbst zu schützen. Denn es birgt ein gewisses Risiko, sich mit diesem Thema in die Öffentlichkeit zu begeben.“

Am mobilen Gedächtnis ist ein kleiner Tachometer angebracht, der messen kann, wie schnell Ulrike Oeter in den kommenden Tagen unterwegs sein wird. Oder besser: wie langsam. Denn die Frau, die sich seit sechs Jahren künstlerisch mit dem Thema Nationalsozialismus beschäftigt, hat es nicht eilig. Sie will sich bewusst Zeit lassen bei ihrem Erinnerungsmarsch.