: Stil statt Saufgelage
PARTY []Indie-Feten und Absturzpartys in schmierigen Rockerkneipen sind ihnen ein Graus: Die eingeschworene Gemeinschaft der Bohème Sauvage feiert stilecht im Zeitgeist der 20er-Jahre. Was als Trend begann, hat sich etabliert. Ein Besuch
VON KRISTINA PEZZEI
Gerempelt wird nicht. Mit einem höflich geraunten „Pardon“ schiebt sich der Herr in Frack und Fliege an den Damen vorbei, die vor der Garderobe Schlange stehen. Susanne zieht eine wohlgezupfte Augenbraue hoch. „,Das habe ich ja lange nicht mehr gehört“, tuschelt sie ihrer Begleiterin zu. Die junge Frau ist das erste Mal auf einem Fest der Reihe „Bohème Sauvage“. Für sie ist neu und aufregend, was vielen der 300 Gäste im Oxymoron längst Kult geworden: Jeden Monat rauschende Feste im Stil der 20er-Jahre, veranstaltet von der „Gesellschaft für mondaene Unterhaltung“.
Wer reinwill, wird streng gemustert. Mit T-Shirt, Jeans und Turnschuhen braucht man es gar nicht erst versuchen, aber auch allzu oberflächlich Verkleideten kann es passieren, dass sie am Eingang abgewiesen werden. „Wir lassen jeden rein, bei dem wir sehen, dass er sich Mühe gegeben hat“, sagt Inga Jacob. Sie ist Initiatorin und Managerin von Bohème Sauvage; die Feste sind Teil ihres auf die 20er-Jahre ausgerichteten Veranstaltungsservices.
Susanne besteht die Augenvisite des Türstehers. Sie trägt ein schwarzes Kleid, eine dunkelgrüne Federboa dazu, das Gesicht fein geschminkt. Die kurzen, dunklen Haare erinnern ohnehin an die damals revolutionären Frauenkurzhaarschnitte. Die 31-Jährige zeigt ihre Karte, erhält im Gegenzug einen Stempel aufs Handgelenk, 30 Millionen Reichsmark und einen Zettel. „Spielregeln“ steht darauf. „In unserem heutigen Gesellschaftsspiel sind Sie ein Charakter aus einem Theaterstück: Luise (die Kellnerin) aus Baal von Bertolt Brecht.“ Ziel des Spiels wird sein, die anderen Charaktere des Stücks zu finden. Die Gruppe, die alle Protagonisten zusammenhat, kann einen Preis gewinnen. Susanne steckt die Millionen in ihre Handtasche und nimmt einen rot gefärbten Begrüßungssekt in Empfang.
Der in Weinrot gehaltene, mit Girlanden geschmückte Saal füllt sich. An der Abendkasse gibt es keine Karten mehr, der Vorverkauf schloss Tage vorher: Längst ist Kommerz geworden, was als feine Salongesellschaft in der Wohnung von Inga Jacob begann. „Damals waren es richtige Themenabende, ich war die Salonière“, erzählt sie. Vorgabe sei etwa gewesen: der 3. März 1924. Die geladenen Gäste mussten sich vorab mit dem Datum befassen, referieren, rezitieren, singen.
Jacob – Künstlername Else Edelstahl, das blonde Haar in Wasserwelle gelegt – hat ihre Wohnung in einem Friedrichshainer Szenekiez entsprechend eingerichtet. Schwer und dunkel das Salonzimmer, gemustert die Tapete, eine Telefon mit Kurbel steht auf einem Sekretär. „Der Apparat funktioniert aber nicht.“ Vor fünf Jahren verlagerte Jacob die Salonabende in Lokale wie den Grünen Salon, das Wintergarten-Varieté oder eben das Oxymoron. Der Erfolg gab ihr Recht: Schon beim ersten Mal kamen 250 Leute. Die Finanzkrise hat Jacob den letzten Schwung gegeben. Parallelen zu den 20er-Jahren, zum Schwarzen Freitag an der New Yorker Börse sind schick geworden; Vintage-Läden und auf die 20er- bis 40er-Jahre spezialisierte Secondhand-Stöberstuben florieren, Swing- und Charlestonkurse sind gefragt wie selten zuvor. Nicht erst seit der Finanzkrise, aber mit zusätzlichem Kick, als wollten die Feiernden wie damals ein entschlossenes und zugleich laszives „Jetzt erst recht“ leben. Inzwischen sind die Bohème-Sauvage-Nächte in der Regel vorher ausverkauft.
Auch wenn sie davon profitiert, ist die Wahl-Berlinerin Jacob von den ewigen Vergleichen leicht genervt. „Der Schwarze Freitag 1929, da ging es doch viel schneller als jetzt“, sagt sie. Parallelen gebe es, ja, aber oft genug werde das Revolutionäre der damaligen Zeit vergessen. „Das war noch mal krasser als 68.“ Es wurde ekstatisch gefeiert, in Varietés, Gaststätten und Ballhäusern, Kinos florierten, Frauen trugen Hosen und schnitten sich die Haare ab. Überhaupt die Frauenbewegung: Oft werde vergessen, wie viel die Frauen damals aufholten gegenüber den Männern, meint Jacob.
Den Soldaten mit seiner Uniform aus der Kaiserzeit nervt die Kommerzialisierung der gesamten Bewegung gewaltig. „Hier geht es ja noch, viele gehören zum eingeschworenen Kreis“, sagt er, am Salontischchen über ein Exemplar der Zeitung Der Mittag aus dem Jahr 1934 gebeugt. „Aber an Silvester etwa, da kann man zu Bohème Sauvage echt nicht mehr hingehen, da kommt jeder.“ Er sitzt an einem Tisch am Rand der Tanzfläche und beobachtet – für ihn ist der Abend eine Vorbereitung auf das Geschichtsfestival Historiale im August. Dort steht zwar die Kaiserzeit bis 1918 im Mittelpunkt, der Mann Ende 30 genießt die gefühlte Atmosphäre des Jahrzehnts danach trotzdem.
Er zwirbelt sein Kinnbärtchen, nippt am Wein, tanzen mag der Berliner nicht – Charleston liege ihm nicht. Und der ist dran beim heutigen Tanzkurs. Links die Herren, rechts die Damen. Grundschritt, Drehung, dann legen die SPUs (die Schallplattenunterhalter) Musik dazu auf. Auch Susanne bleibt sitzen. Niemand fordert sie zum Tanzen auf. Es gilt, Contenance zu bewahren.
Um halb drei löst Susanne ihren Coupon an der Garderobe im Untergeschoss ein. Zum Ausgang muss sie sich durchs Gedränge schieben, es riecht nach Schweiß. Ein „Pardon“ für allzu direkten Körperkontakt hört sie nicht mehr.
Nächste Party: 31. Mai im Bassy, Schönhauser Allee 176a, ab 22 Uhr