Stadtteilpolitik von unten

DEMOKRATIE In Sevilla entscheiden die Bezirke selbst über ihre Ausgaben. Vorbild ist Porto Alegre

■ Bürgerhaushalte, auch partizipative Haushalte genannt, sollen die direkte Demokratie stärken, indem die BürgerInnen bei Versammlungen zumindest zum Teil mitbestimmen, in welchen Bereichen kommunale Investitionen getätigt werden. Der erste Bürgerhaushalt wurde 1989 im brasilianischen Porto Alegre eingerichtet, dem langjährigen Veranstaltungsort des Weltsozialforums. Seitdem weitet sich die Bewegung weiter aus. Weltweit betreiben mittlerweile hunderte Gemeinden und Institutionen Bürgerhaushalte – die meisten sind in Lateinamerika, vor allem in Brasilien, Ecuador, Argentinien und Venezuela. Aber auch in den USA und Kanada, in Spanien, Portugal, Frankreich, Italien, Großbritannien und Deutschland, darunter Köln und Berlin-Lichtenberg, gibt es mittlerweile diese Form von Basismitbestimmung über kommunale Ausgaben. Einige GlobalisierungskritikerInnen beteiligen sich inzwischen nicht mehr an den Bürgerhaushalten – sie kritisieren das Konzept als „Mängelverwaltung“. In Sevilla befindet sich der weitestgehende Bürgerhaushalt Europas, denn im Unterschied zu anderen Verfahren beinhaltet er auch soziale Verteilungskriterien. Usche

AUS SEVILLA REINER WANDLER

Wenn Ricardo Marqués aus dem Fenster seines Büros blickt, ist er immer noch stolz. Denn dort unten verläuft sein Radweg. Genauer gesagt: sein Radwegenetz. 80 Kilometer ist dieses Netz lang, und es hat Ricardo Marqués in seiner Heimatstadt Sevilla populär gemacht. 18 Jahre lang hatte die Sevillaner Bürgerinitiative „Gegenverkehr“ erfolglos dafür gekämpft. Bis der 55-jährige Universitätsprofessor für Elektromagnetismus 2004 auf die Idee kam, das Projekt bei der ersten Debatte zum Bürgerhaushalt vorzustellen. Mit Erfolg: Das Vorhaben bekam die meisten Stimmen, und die Stadt investierte insgesamt 18 Millionen Euro in das Radwegenetz.

Das Geld ist offenbar gut angelegt. „Vor fünf Jahren sind nur knapp 6.000 Menschen täglich mit dem Fahrrad gefahren. Ende 2008 waren es bereits 60.000“, erklärt Marqués. Die 2.500 Leihfahrräder sind fast immer ausgebucht. Nun sollen neue Räder hinzukommen, und 28 weitere Radkilometer sind in Planung.

Inzwischen ziert Marqués’ Konterfei die Plakate der Stadtverwaltung: „Er hat es geschafft? Und du?“, steht neben dem Foto. Damit versucht das Amt für Bürgerbeteiligung, die Einwohner Sevillas für die Teilnahme an den Debatten über den städtischen Haushalt zu gewinnen. „Wenn die Leute basisdemokratisch über die Ausgaben mitentscheiden können, sind sie leichter zu motivieren, sich auch an der sonstigen Kommunalpolitik zu beteiligen“, erklärt die zuständige Dezernentin, Josefa Medrano. Die 53-jährige ehemalige Zigarrendreherin gehört seit ihrer Jugend der Kommunistischen Partei an und war lange in der Gewerkschaft aktiv. Jetzt sitzt sie für die Vereinigte Linke (IU) im Stadtrat.

Als Juniorpartner der sozialistischen PSOE bestimmt die IU seit 2003 mit über die Entwicklung der 700.000-Einwohner-Großstadt im Süden Spaniens. Der Bürgerhaushalt war eine der Bedingungen der Linken im Koalitionsvertrag. Das Vorbild fanden sie im brasilianischen Puerto Alegre. Heute ist Sevilla die größte europäische Stadt, in der die Bürger selbst über einen Großteil der Ausgaben der Stadtverwaltung bestimmen.

Knapp 16 Millionen Euro umfasst der Bürgerhaushalt 2009. Alle Distrikte der Stadt stellen zwischen 60 und 75 Prozent ihrer Ausgaben zur Abstimmung. Die verschiedenen Dezernate beteiligen sich ebenfalls. Stadtteilfeste, Sanierungsarbeiten, ein Bürgerradio, Integrationsmaßnahmen, Hallenbäder, Sportplätze – all das wurde mittels Bürgerhaushalt finanziert.

„Mittlerweile nehmen mehr als 5.000 Menschen an der Haushaltsdebatte teil“, erklärt Medrano. Verglichen mit den 700.000 Einwohnern sei das zwar nicht viel. „Doch das sind 5.000 Menschen, die sich intensiv um ihren Stadtteil und um die Stadt kümmern.“ Und das freut die Linkspolitikerin.

Die Regeln für das Verfahren haben die Bürgerversammlungen selbst ausgearbeitet. Jeder Einwohner von Sevilla hat das Recht, Anträge zu stellen und auf der Versammlung seines Stadtteils abzustimmen. Die Entscheidungen dieser Versammlungen sind verbindlich. Einmal im Jahr wählen sie Vertreter, die der Stadtverwaltung bei der Umsetzung des Bürgerhaushalts auf die Finger schauen. Sie haben auch das Recht, die Prioritäten bei der Umsetzung der Projekte festzulegen. Dadurch werden die Projekte dort zuerst umgesetzt, wo es am Dringendsten ist.

„Unser Stadtteil hat sich sehr verändert, seit es den Bürgerhaushalt gibt“, versichert Dolores Linares. Von Anfang an war sie in den Bürgerversammlungen aktiv. Jetzt steht sie geduldig Schlange, um sich im Bürgerzentrum von Torreblanca für die Haushaltsversammlung einzuschreiben. Das Arbeiterviertel am Ostrand der Stadt war immer ein Ort, über den andere entschieden haben. Eigeninitiative konnten die Einwohner nur in Form von Protesten zeigen. Doch ihre Forderungen fanden nur selten Gehör. „Jetzt können wir endlich selbst bestimmen, was für uns am Nötigsten ist“, sagt Linares. Die 50-jährige Krankenschwester wird heute einen Antrag zur Instandsetzung eines heruntergekommenen Parks stellen und dies vor mehr als 200 Mitbürgern begründen.

Das ist nur ein Projekt von vielen. Über Ausgaben in Höhe von rund einer Million Euro stimmt die Bürgerversammlung in Torreblanca an diesem Nachmittag ab. Stadtteilfest, Maiprozessionen, Verbesserungen des Schulhofs, Workshops im Bürgerzentrum, Aktivitäten für Kinder, Reisen für Rentner – die Liste ist lang. Etwas ganz Besonderes haben sich die drei Frührentner José María, David und Manolo einfallen lassen. Unter dem Namen „Por una Sonrisa“ – „Für ein Lächeln“ haben sie sich als Komikertrio zusammengefunden. Sie tingeln von Bürgerzentrum zu Bürgerzentrum und geben ihre Parodien und Sketche zum Besten. Da zurzeit in allen Stadtteilen die jährlichen Versammlungen zum Bürgerhaushalt stattfinden, sind sie auch dabei. Sie möchten, dass der Kulturfonds der Stadt die freien Theatergruppen unterstützt. Dafür müssen sie die Zustimmung aller Bezirke erlangen. Die drei tragen ihr Anliegen in Form einer Chirigota – des in Südspanien typischen satirischen Karnevalsgesangs – vor: „Dieser Stadtteil verdient ein Lachen, die Sorgen kommen ganz allein. Stimmen Sie zu, und wenn Sie’s nicht machen – Gut! Okay! Soll wohl nicht sein!“