AUSGEHEN UND RUMSTEHEN VON DETLEF KUHLBRODT
: Die Zeit verlangsamen

DER GRAECOPHILE MEDIENTHEORETIKER IM AMPHITHEATER VOR DER VOLKSBÜHNE

Die letzten fünf Monate waren in fünf Minuten vergangen. Nun hatte ich beschlossen, im Präsens zu schreiben, um das Auslaufen der Zeit zu verlangsamen. Am Samstagnachmittag fahre ich zu Karstadt. Ich hatte von einer hellblauen Trainingsjacke geträumt und gehe suchend hin und her. Unschlüssig steh ich vor einer dunkelblauen Traningsjacke der Firma „Tao“. Die Jacke ist ganz gut und verfügt auch über eine kleine Überraschungstasche am Ärmel.

Wenn ich diese Jacke kaufen würde, könnte ich Freund Tao davon berichten und er würde sich bestimmt sehr freuen. Ich kaufe sie aber doch nicht.

Als ich das Kaufhaus verlasse, ist es fünf, aber schon recht dunkel, als sei es schon wieder November. Es regnet heftig. Hätte ich die Jacke gekauft, würde ich jetzt nicht so nass werden. Ich halte Höhe Südstern und stelle mich unter einen großen Baum.

Es platscht immer mehr und schüttet sozusagen. Dann kommt ein Anwohner und sagt: „Aber Sie werden ja ganz nass! Kommen Sie mit in den Hauseingang.“ Ich freue mich über die menschliche Zuwendung. Später bin ich zu Hause. Es kommen vier Freunde. Wir schauen also zu fünft sechs Folgen der siebten Staffel von „24“ an. Es sieht ganz danach aus, als würde Jack Bauer diese Staffel nicht überleben. Komisch, wie angenehm und selbstverständlich es sich anfühlt, zusammen eine Serie zu schauen, in der es immer wieder um Folter geht. Im Lauf der sechs Jahre, seitdem wir „24“gucken, haben wir uns aneinander gewöhnt. Vor dem Schlafengehen schaue ich mir eine neuere Simpsons-Folge im Netz an. Wegen der Umwelt ist Lisa nicht so optimistisch und bekommt deshalb eine Wohlfühldroge namens „Ignorantil“ verschrieben.

Sonntag ist Karneval der Kulturen. Von draußen fliegt laute Musik in die Wohnung. Der türkische Gemüsehändler hat eine richtig gute Anlage aufgebaut und spielt eher so Technohouse. Ich bin erstaunt, dass er moderne Tanzmusik hat. Wahrscheinlich gibt es einen in der Familie, der sich da auskennt; vielleicht ist er es selber.

Ich mache das Fenster auf und beteilige mich an der Seitenstraßenhintergrundmusik des Karnevals. Dann stört es mich doch ein bisschen, weil meine Musik mich in einer Glocke einschließt und ich das Musik-Lärm-Durcheinander von der Straße kaum noch hören kann. Ich mache meine Musik etwas leiser.

Beim Fußball im Fernsehen steht „Finale zum Glück. We can start the Feier“ auf einem Plakat in Nürnberg. Nun ist die DDR endgültig abgestiegen und der einzige Ost-Verein, der übrig bleibt, heißt Hertha BSC.

Später bade ich ein bisschen in der Menge. Es gibt Fähnchen vom rbb mit dem Ulbricht-Sandmännchen des DDR-Fernsehens und zwei halbnackte Männer im Schottenrock. Auf dem Rücken des einen steht:“„anal queen 1“ auf dem Rücken des anderen: „anal queen 2“. Und im Amphitheater vor der Volksbühne spricht Friedrich Kittler über den Begriff „Melos“. Es geht um Musik und Sprache, Zahlen, Vokale und Konsonanten und wie sich das alles notiert. Eingangs seines Vortrags gibt es das Pink Floyd-Lied „A Gig in the Sky“ von der Dark-Side-of-the-Moon-Platte. Die Sirenen kommen immer zu zweit und leben in Vokalen, Sappho ist super. Viele im Publikum tragen Bundeswehrregenmäntel. Es macht großes Vergnügen, den Ausführungen des berühmten graecophilen Medientheoretikers zu folgen, gerade auch, weil man nicht alles versteht. Die Ursprungsgeschichte ist eine Überschreibung anderer Ursprungsgeschichten; Paulus' Polemik gegen das In-Zungen-Reden variiert nur ein Homer-Zitat; vielleicht lässt sich die Musik der Griechen irgendwann anhand ihrer Vasen entziffern.

Am Ende der kittlerschen Ausführungen schaut die liebe Abendsonne vorbei. Kittler schließt seine Rede mit den Worten „Shine on You Crazy Diamond“. Am Anfang seines folgenden Gesprächs mit Christian von Borries (Masseundmacht.com) beginnt ein beeindruckender Platzregen und wir ziehen um.