: Am schönsten ist die Stille
NEUER DIRIGENT Stücke, die im Schweigen enden, mag er am liebsten. Das seien große Momente der Konzentration, findet Jeffrey Tate. Er ist der neue Chefdirigent der Hamburger Symphoniker. Im Herbst gibt er mit ihnen sein erstes Konzert
Die Hamburger Symphoniker sind – neben dem NDR-Sinfonieorchester und dem Philharmonischen Staatsorchester – das dritte große Hamburger Orchester. Von Tate dirigierte Highlights der kommenden Saison:
■ „Der Klassiker“ mit Haydns Harfenkonzert und Bruckners 5. Sinfonie;
■ „Images“, ein Programm mit Liedern von Debussy, Britten und Gerhard;
■ „Der Sturm“, eine musikalisch-szenische Fassung von Sibelius und Shakespeare – in Kooperation mit dem Thalia Theater;
■ „Von heute. Für immer. So Schön“, ein Abend mit Werken von Adès, Mozart und Brahms.
VON PETRA SCHELLEN
Nein, sagt Jeffrey Tate, nur für sich selbst zu musizieren, sich eine schöne Zeit zu machen – das wäre nichts für ihn. „Dann hätte ich die ganze Zeit ein ungutes Gefühl.“ Tate möchte, dass Musik auch auf andere wirkt. Dass sie eine soziale Funktion erfüllt, und das sagt er nicht nur daher: Der im September beginnende neue Chefdirigent der Hamburger Symphoniker will, „dass die Zuhörer nachdenken über die Stücke.“ Dass sie nicht nur deren Stimmung erfassen, sondern auch das Thema; nicht schwer bei Brittens War Requiem, schon schwieriger bei Schuberts Unvollendeter.
„Musik soll kein Klangbrei sein“, sagt der drahtige Brite, der auf Wunsch der Eltern zunächst Medizin studierte. „Alle Stücke behandeln irgendeine Form menschlicher Aktivität, und diesen Tenor kann jeder erfassen“, sagt er, der ausdrücklich wünscht, dass auch musikalisch weniger Informierte seine Konzerte besuchen: „Ein Konzert kann Anlass sein, über inneres Erleben zu reflektieren.“
Dabei will Tate vor allem eins: Intensität. Er will kommunizieren. „Entertainment“, sagt er, „ist mir zuwider.“ Auch Oberflächlichkeit und die viel beschriene Wortlosigkeit in puncto Musik. Er weiß zwar, das man musikalisches Erleben schwer beschreiben kann. Aber er versteckt sich nicht hinter der Unzulänglichkeit der Sprache und benennt so viel wie möglich.
Dabei ist er stets ehrlich: Er hat Grenzen, und er formuliert sie klar. Etwa in puncto Moderne. Da reicht seine Musizierlust bis zu Thomas Adès und Peter Ruzicka. „Aber die Darmstädter Schule neuer Musik bereitet mir Probleme“, sagt er. Da gebe es Stücke, die er ästhetisch schätze, zu denen er aber keinen emotionalen Zugang finde.
Die Form auch der modernen Stücke bereitet ihm dabei keine Probleme: „Der mathematische Zugang zu Musik – das sorgsame Ausloten der musikalischen Architektur – bereitet mir Freude“, sagt er. „Ich bin ein Kopfmensch und gehe sehr klar an Musik heran.“ Hieraus erwachse auch das ästhetische Vergnügen: daraus, dass man das Zusammenspiel der Einzelteile begreife und dessen Ästhetik erfasse.
Ein Dirigent also mit rein rationalem Zugang zu Musik? „Nein“, sagt er. „Ratio und Gefühl sind eine Einheit für mich.“ Wo sich aber intellektuelles und emotionales Vergnügen treffen, kann er nicht sagen. „Das ist ein Genuss. Es ist, was es ist, wie andere, tiefe Gefühle auch“, sagt er und lächelt. Welche Epochen ihn also am stärksten erfreuen? „Alles bis rückwärts zu Haydns Frühwerk“, sagt er. „Das ist für mich die Grenze. Auch Bach und Händel würde ich nicht mehr spielen“, sagt er. Jedenfalls nicht mit jenen modernen Sinfonieorchestern, die er im In- und Ausland dirigiert. „Dafür hat sich die historische Aufführungspraxis zu stark durchgesetzt – mit alten Instrumenten und kleinen Ensembles. Die Menschen haben an diesen schlanken Klang gewöhnt. Es gibt da viele gute Orchester, mit denen ich nicht konkurrieren will.“
Außerdem sei er in einer Zeit aufgewachsen, in der sämtliche Komponisten romantisch-wuchtig gespielt wurden, und das habe ihn geprägt. „Und um Bachs h-Moll-Messe so transparent zu spielen, wie es dem heutigen Klangideal entspricht, habe ich noch zu stark die Klänge aus meiner Jugend im Ohr.“
Dabei spiele er auch einen Mozart durchaus „schärfer, leichter und schneller als vor 20 Jahren“. Auch Brahms gibt er nicht so pompös wie damals – aber zu seinen Lieblingskomponisten zählt der immer noch. Vielleicht ist Tate doch ein bisschen Romantiker geblieben, wer weiß. Am meisten schätzt er jedenfalls das Brahms’sche Schweigen. Jene Stücke, die in Stille enden – wie dessen 3. Sinfonie, die Tate in der nächsten Saison in Hamburg dirigieren wird. „Ich liebe Stücke, die im Nichts enden, die quasi einfach verschwinden. Ein solches Ende ist für mich eine Allegorie auf den Tod“, sagt Tate.
Mit dem war er vor 18 Monaten sehr plötzlich konfrontiert; im letzten Moment wurde er wiederbelebt. „Und als ich aus dem Koma aufwachte, merkte ich, dass der Tod in diesem Fall – es gibt natürlich grausamere – viel bequemer ist, als ich dachte. Denn ich hatte ja gar nichts davon bemerkt. Ich war einfach weg. Das hat mich ein bisschen beruhigt.“
Glücklich macht ihn der Gedanke, nicht mehr zu existieren, immer noch nicht. Aber der Tod ist nicht mehr so schrecklich. Was danach kommt? „Ich weiß nicht. Ich glaube nicht an Gott“, sagt Tate. „Ich glaube, dass wir schlicht verschwinden und uns irgendwann mit dem Nichts vereinen. Ich hätte es sicher leichter, wenn ich Buddhist wäre. Aber das bin ich noch nicht“, sagt er, pragmatisch und immer mit ironischer Distanz zu sich selbst.
Gedanken, die schwer in Worte zu fassen sind, aber umso klarer in Klänge. „Musik ist eine Sprache, die auch Metaphysisches übermitteln kann“, sagt Tate. „Und deshalb liebe ich diese Stille nach dem Wohlklang – und fast noch mehr die folgende Pause vor dem Applaus. Das ist ein konzentrierter Moment, den ich sehr beglückend finde.“
Wobei auch der Applaus variieren kann. In Japan zum Beispiel, „da klatschen die Leute so, wie das Stück war: leise, wenn es leise war, laut, wenn es pompös war. Sie spüren – oft besser als wir Europäer – welche Nuance an Applaus ein Stück erfordert.“ Aber nein, auf die Europäer schimpfen will er nicht. Obwohl es schon manchmal stört, das Husten oder Zwischen-den-Sätzen-Klatschen. Neulich ist das den Symphonikern passiert. „Ich frage mich, ob wir etwas falsch gemacht haben. Ich hoffe nicht“, lächelt er.
Da ist sie wieder, die Bereitschaft zu Selbstzweifel und -korrektur, die auch seine Proben prägt. Denn natürlich gebe er die „große Vision“, die Phrasierung eines Stücks vor, sagt Tate. Aber er respektiert auch die Vorschläge der Musiker. „Wenn der erste Geiger sagt, hier muss ein Aufstrich sein, akzeptiere ich das. Schließlich muss er die handwerkliche Arbeit leisten.“ Und wenn er merkt, dass seine Ideen nicht praktikabel sind, schließt er Kompromisse. „Es ist keine völlige Demokratie – das geht auch gar nicht zwischen Dirigent und Orchester,“ sagt Tate. „Aber ich würde sagen: Es ist eine Art Demokratie.“