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Archiv-Artikel

Kanzler nimmt das Wort „Tobinsteuer“ in den Mund

Bundesregierung ändert Haltung zu internationaler Steuer. Globalisierungskritiker beim Weltsozialforum in Porto Alegre ahnungslos

BERLIN/PORTO ALEGRE taz ■ Die Tobinsteuer ist kein rotes Tuch mehr. Auch Bundeskanzler Gerhard Schröder kann inzwischen der Idee etwas abgewinnen, grenzüberschreitende Devisentransaktionen zu besteuern, um Geld für die Armutsbekämpfung zu erhalten. Vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos sagte Schröder am Freitag, eine solche Steuer könnte ein Weg sein, Schuldenstreichungen für die Länder Afrikas zu finanzieren.

Die Bundesregierung beginnt damit, ihre Position zur Tobinsteuer zu ändern. Bisher wurde die Idee meist abgelehnt. Ins Gespräch gebracht hat die Steuer vor Jahren die globalisierungskritische Organisation Attac.

Einschränkend sagte Schröder, er bezweifle, dass der Vorschlag einer Tobinsteuer, den Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac in Davos unterbreitet hatte, unter den großen Industrieländern konsensfähig sei. Bei der Steuer auf Finanzgeschäfte müsse sichergestellt werden, dass sie nur spekulative Transaktionen erfasse. Attac Deutschland begrüßte gestern den grundsätzlichen Sinneswandel der Bundesregierung, forderte aber, das Nachdenken nach Davos nicht gleich wieder einzustellen.

Die Tobinsteuer ist benannt nach dem US-Ökonomen James Tobin, von dem die grundsätzliche Idee stammt. Globalisierungskritiker fordern die Steuer, um zwei Ziele zu erreichen: Einerseits wollen sie spekulative Schwankungen an den internationalen Kapitalmärkten verhindern, andererseits sollen die Staaten Geld für Entwicklungszwecke erhalten.

International nimmt die Unterstützung für die Steuer zu. So haben im vergangenen Herbst über 100 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen einen Bericht der französischen Regierung begrüßt, in dem die Besteuerung von Devisentransaktionen vorgeschlagen wurde. Die Parlamente in Frankreich und Belgien haben bereits die europaweite Einführung der Steuer gefordert. Auch das Bundesentwicklungshilfeministerium hielt die Steuer in einer Studie für machbar und sinnvoll, doch das Bundesfinanzministerium hat diese Pläne bisher blockiert.

In der „anderen Welt“ des Sozialforums von Porto Alegre hingegen fanden die Nachrichten aus Davos kaum Beachtung. Sei es, weil die auf rund 150.000 Menschen angewachsene Masse von TeilnehmerInnen zwischen den vielen eigenen Veranstaltungen kaum Zeit und Gelegenheit fand, sich überhaupt über Weltnachrichten außerhalb des „Planeten Porto Alegre“ zu informieren, sei es, weil auf Politikernachrichten aus Davos bei den antikapitalistischen AktivistInnen in Porto Alegre ohnehin nur mit müdem Lächeln reagiert würde. Selbst Delegierte von Attac, dem Netzwerk also, das die Forderung nach Einführung der Tobinsteuer weltweit zum Thema gemacht hat, wussten von Chiracs Davoser Initiative nichts.

Das könnte sich allerdings am Wochenende ändern: Gestern sollte die französische Gleichstellungsministerin Nicole Ameline zu einem dreitägigen Besuch in Porto Alegre eintreffen. Sie will beim Weltsozialforum über die besondere Rolle der Frauen für eine nachhaltige Entwicklung sprechen – und über die gemeinsamen Werte des brasilianischen Präsidenten Lula da Silva und Jacques Chiracs.

KOCH, PKT