Zeitung auf dem Dorf

VON CLAUDIA KOPPERT

Es war in der letzten Realschulklasse, dass uns die Deutschlehrerin Frau Reinders die Aufgabe stellte, herauszufinden, ob, und wenn ja, warum die Leute an unserem Wohnort eine Tageszeitung lesen, was ihnen daran wichtig sei. Das ist zwanzig Jahre her. Damals ermittelte ich, was hier auf dem Dorf zu erwarten war: wegen der Todesanzeigen, Schweine- und Milchpreise, der Regionalnachrichten, Unfall- und Sportberichte. Vor kurzem beschäftigte mich die Frage noch einmal, und ich wagte etwas, das ich mich vor zwanzig Jahren nicht getraut hätte: Ich klingelte bei dem Schriftsteller im Nachbardorf und fragte ihn, was ihm eine Tageszeitung bedeute, denn bei einer Dichterlesung in der Kreisstadt hatte er in einem Nebensatz fallen lassen, dass er mehrere Zeitungen beziehe. Nein, nein, nicht Kempowski, der wohnt zwar auch in einem Nachbardorf, aber nicht in dem; vermutlich hält auch er mehrere Zeitungsabonnements, aber bei Kempowski hätte ich nicht gewagt, das Grundstück zu betreten, gar auf der Suche nach einer Klingel ums Haus herumzugehen. Herr F. hingegen ist nur Eingeweihten bekannt, er schreibe für sich und die Nachwelt, antwortete er bei der Lesung einem Zuhörer freundlich.

Ich bekam meine Antwort, also jedenfalls kann ich mir aus dem, was ich zu hören bekam, eine zusammenreimen. Aber im Grunde ist es fürchterlich. Das habe ich davon, dass ich gern mal mit so jemand sprechen wollte. Dem eine Tageszeitung etwas anderes bedeutet als sonst den Leuten auf dem Dorf, sagte ich, nachdem er die Tür vorsichtig geöffnet hatte. Die Sache mit Frau Reinders und dass ich mit dem Hund unterwegs sei, das war offensichtlich nicht gelogen, denn der Hund saß auf Tuchfühlung neben mir. Herr F. hörte mir zu, den Kopf zur Seite geneigt, wie es auch der Hund macht, wenn ihm etwas zu Gehör kommt, das er noch nicht recht einzuordnen weiß. Dass ich bei seiner Lesung war. Nicht nur, ob wieder jemand an den Baum gefahren ist, wann, wo. Er lächelte ein sanftes Lächeln, bat mich herein, wieder war er so nett.

Als ich mich an die ungleichmäßige Beleuchtung des Raums gewöhnt hatte, die ausgebaute alte Diele, sah ich die Zeitungen: auf Tischen, neben dem brennenden Kamin, auf Stühlen, einen Wall aus zerfledderten, großformatigen Seiten hinter dem Sofa. Auf dem Zeitungsstapel am Fenster saß eine Katze und schien meinen Hund draußen zu beobachten. Nichts ist so gut zum Anfeuern wie zusammengeknülltes Zeitungspapier, sagte Herr F. lachend und verschwand in einem Nebenraum. Aber das wird einem heute mit den Anzeigenblättern ja frei Haus geliefert!, er kehrte mit einer Tasse Tee zurück, die er mir an einem runden Tisch servierte.

Sie kommen hier hereingeschneit und wollen wissen, warum ich die Zeitungen abonniert habe. Gute Frage. Er ging hinüber zum Sofa. Wo keine Zeitungen lagen, lagen Bücher oder Papierstöße. Offensichtlich war er gewillt, sich meine Frage durch den Kopf gehen zu lassen, schlug mit Schwung das eine Bein übers andere, griff nach der Pfeife auf dem Couchtisch. Ich schätzte ihn Ende vierzig, höchstens Anfang fünfzig. Die Katze kam zu mir auf den Schoß. Der Bildschirm schaltete sich automatisch ab.

Sie wissen, ich habe noch eine Wohnung in Hamburg, meine Frau und ich? – Ich hatte davon gehört. – Die Zeitungen lese ich hier, um auf dem Laufenden zu bleiben: thematisch, sprachlich, politisch. Und manchmal lasse ich mich von Meldungen zu einer Geschichte anregen. Dann schwieg er, schmauchte die Pfeife. Draußen wurde es jetzt schnell dunkel, obwohl es erst auf vier zuging, winterlicher Dämmer. Ich würde den Rückweg durch die Felder nehmen.

Gerade als ich mich erheben wollte, die Katze heruntersetzen, knallte Herr F. die Pfeife auf den Couchtisch, er war aufgesprungen, lief nach nebenan, ich hörte das leise Plobben eines Korkens beim Abziehen, traute nicht, mich zu rühren. Nachher warf er Scheite ins Feuer, hantierte mit dem Blasebalg. Das alles sei Unfug, Anfeuermaterial, Inspiration, blablabla, fauchte er. In Wahrheit hätten die Zeitungen ihn in der Hand. Er giere danach, seinen Namen darin zu lesen. Fahrig seine Bewegungen, der Blick flackernd, eine ganz andere Energie war jetzt in dem Mann. Nicht die Zeitungen im eigentlichen Sinn, sondern die Instanz, die sie vorstellten, sagte er: die Öffentlichkeit.

Einmal sei eine Besprechung seines Buchs erschienen, in einer Zeitung, die er schätzte. Aus einem Stoß zog er eine Seite, legte sie vor mich hin. „F. macht alles falsch, was man nur falsch machen kann“, stand da, „… elaborierter Kitsch mit dem Horizont eines Staubsaugervertreters.“ Am Rand handschriftliche Bemerkungen in grünem Filzstift, für mich unleserlich. Er eilte durch den Raum: Genüsslich zu lesender Verriss, hieß es im Bericht über die Besprechung, der dann über die Literaturticker lief, die Gemeinde goutiert solche Ergüsse, für die sind sie geschrieben, das Buch nur ein Anlass, um etwas auf scheinbar hohem Niveau abzukanzeln, große Töne zu spucken, ein Vehikel – das Folgende verstand ich nicht. Er stocherte im Feuer, sein Schatten zuckte riesenhaft über das Mobiliar des Raums. Zwischendurch schien er meine Anwesenheit zu vergessen. Er sei ein Gottsucher. Aber: Gott ist tot. Früher sei man der Priesterschaft ausgeliefert gewesen, die ihren Machtgelüsten frönte. Sich zu mir wendend, deutete er auf seine Schädeldecke, hier drunter sei eine Stelle, wo die Sinnesnerven auf die Großhirnrinde träfen, da wohnte Gott, nirgends sonst, da sei er entstanden, habe er sein Unwesen getrieben, sei er untergegangen. Bei Leuten wie ihm, setzte er hinzu. Ich peilte die Strecke zwischen meinem Platz und der Haustür, draußen wartete der Hund, ich müsste es nur bis vor die Tür schaffen.

Heute wohne hier das fantasierte Auge der Öffentlichkeit, hier wache es, verlange Opfer, Gefolgschaft. Ein Bewusstseinsphänomen, das die Zeitungspriester instinktiv für sich zu nutzen wüssten. Gesehen werden wollen, der letzte, der innigste, unerfüllt bleibende Wunsch des einsamen Individuums. Die Katze schien seine Stimmung nicht zu beunruhigen. Schafften eine Aura der Alleswisserschaft, die anschließe an das alte „Gott sieht alles“, des Eingeweihtseins, des Erhörtseins vom Geist der Zeit, ein Phantasma, stöhnte er und lief wieder nach nebenan den Korken abstöpseln. E-kel-haft, schallte es herüber, dreist, wie die Priesterredakteure ihre Interessen, ihren Geschmack als im Auftrage höherer Wahrheit, der Literaturgeschichte, der Wissenschaft … Mainstream-besessene Wortwichser, elaborierter Code hoch Dünkel, postbourgeoise Arschgeigen, er schimpfte ziemlich, dann fiel ihm wohl wieder ein, dass ich da war, er warf mir einen ausgeschnittenen Zeitungsartikel hin, die Besprechung des neuen Buchs eines erfolgreichen Autors. Der, sagte er, hat dasselbe Thema wie ich, das Unglück der Autorschaft angesichts der Subjektverlorenheit, ich verstand nur Fetzen. Er, nicht dieser hochgerühmte Autor, ziele tief, ohne diese verfluchte Ironie, kein Zeitgeist-triefendes Gesülze, existenziell, unerbittlich. Ich hoffte, seine Frau käme heim, sie kam aber nicht. Nur bis vor die Tür, tröstete ich mich.

Ha!, schrie er da, stürzte auf den Stuhl vor dem Bildschirm, der Bildschirm blendete auf. Sie bringen mich auf einen Gedanken, gar nicht schlecht, gar nicht schlecht, und fing an in rasendem Tempo zu tippen. Ich saß in seinem Rücken, streichelte die Katze. Wenn ich jetzt ginge, könnte ihn das drausbringen. Ab und an sagte er etwas: Kaste der Priesterredakteure. Der Dichter bringt sein Opfer dar. Sich bedanken, wenn man abgewiesen wurde. Wahre Demut, wahre Größe. Zugegeben, ich fühlte mich etwas überfordert von dieser Situation, in die ich mich da gebracht hatte. Draußen war es bereits stockdunkel. Ich schrieb auf ein Blatt: Danke, meinen Namen, die Telefonnummer. Dann schlich ich hinaus.

Ich muss sagen, so habe ich mir das nicht vorgestellt: dass einer sich Zeitungen hält, um sich damit in den Rausch verzweifelter Erregung zu bringen, der für seine Arbeit anscheinend erforderlich ist. Was für ein mühseliges Geschäft.