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Archiv-Artikel

Russische Seele jetzt auf Freigang mit ErsatzMusika und Soulpop mit Oceana aus dem Seeed-Umfeld

Die mediale Halbwertszeit hat sich mittlerweile so beschleunigt, dass mancher Trend erst entsteht, wenn die Berichterstattung über ihn schon wieder beendet wurde. Dass Berlin zur Ost-West-Drehscheibe würde, ward viel beschworen, bevor die künstlerische Produktion diese These tatsächlich stützen konnte. Nun ist das Thema schon nicht mehr schick, aber dafür endlich alltägliche Realität.

Wie selbstverständlich die Welten mittlerweile zusammenfinden, beweisen wieder mal ErsatzMusika mit ihrem zweiten Album „Songs Unrecantable“. Die Band aus russischen Neuberlinern wurde bekannt mit wundervoll sentimentalen Erinnerungen an die verlorene Heimat. Nun aber hat man sich personell ergänzt mit dem Gitarristen und Mixer Phil Freeborn und textet ausschließlich Englisch. Das allerdings ist in der akzentschweren Intonation von Irina Doubrovskaja kaum zu hören: Die Sängerin und Akkordeonistin klingt wie eine Immigrantin, die sich um sprachliche Assimilation bemüht, aber ihre Identität nicht verleugnen kann. So werden die oft wehmütigen Lieder auch zu einer politischen Aussage, zur Selbstbehauptungserklärung einer Minderheit.

Musikalisch werden die bekannten Klischees nicht nur reproduziert, sondern veredelt. Die melancholische Verzweiflung und versoffene Schunkelei, mit der die Russendisko zur Touristenattraktion wurde, bearbeiten ErsatzMusika ihrem Bandnamen angemessen: Sie integrieren dabei nicht nur Einflüsse aus Rock, elektronischer Musik oder Vaudeville, sondern verzichten vor allem auf allzu demonstratives Selbstmitleid. Mit den Mitteln des Dub entsteht dann so etwas wie ein Surrogat, zu dem man zwar durchaus noch tanzen kann, aber sich nicht automatisch zu lebenslänglich russischer Seele verurteilt fühlt.

Doch in Berlin wird nicht nur osteuropäische Folklore adaptiert, sondern bekanntlich sehr erfolgreich auch jamaikanische. Aus dem Umfeld von Seeed kommt Oceana. Die in Paris geborene und in Hamburg aufgewachsene Sängerin war nicht nur tätig für Berlins liebste Reggae-Truppe, sondern auch für die Solo-Projekte von deren Vortänzern, Boundzound und zuletzt Peter Fox. Auf ihrem ersten eigenen Album ist der Offbeat allerdings nur ein Einfluss unter vielen anderen. Denn „Love Supply“ ist moderner Soulpop, der mal etwas schmalzig geraten ist und dann wieder ganz unverhohlen auf die Charts schielt, aber vor allem niemals vor Genregrenzen halt macht. Neben den üblichen Dance-Beats finden sich schnittige Funk-Riffs und ein schönes altes Motown-Tambourin, aber auch arabische Spurenelemente und nicht zuletzt kräftige Jazz-Bläser – wohl eine Reminiszenz an Maceo Parker, einen Freund der Familie und frühen Förderer.

Die Folge dieser professionellen Unentschiedenheit ist, dass „Love Supply“ nun erstaunlich international klingt. Dass Oceana in Berlin lebt, das hört man ebenso wenig wie die Tatsache, dass die Songs in Hamburg und New York aufgenommen wurden. Oceana hat halt vor allem ihre ganz private Drehscheibe aufgenommen. THOMAS WINKLER

■ ErsatzMusika: „Songs Unrecantable“ (Asphalt Tango/Indigo), live Fr., Maschinenhaus/Kulturbrauerei

■ Oceana: „Love Supply“ (Ministry of Sound/Edel) live Sa. bei Mundo Mix Party im Arena Glashaus