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Archiv-Artikel

Moll in Großaufnahme

Gonzales kehrt zurück: mit Strickjacke und Filzpantoffeln statt mit Brustpelz und Showanzug. Und spielt auch Klavier wie einer, der im weiten Reich der Geschichte unvermutete Schätze entdeckt. Das Piano-Solo eines Pop-Produzenten

Die Hauptakteure waren nicht zu übersehen: zwei große Hände, man könnte sie auch als Pranken bezeichnen. Sie droschen aufeinander ein, befummelten sich, spielten Katz und Maus und flatterten davon. Ihr Spielfeld am Samstagabend: die 88 Tasten eines Klaviers im Hebbel Theater. Ein Kanadier namens Jason Beck beugte sich darüber, seine Show nannte sich „Solo Piano“. Anderthalb Stunden saß er dort, danach sang ihm ein völlig elektrisiertes Publikum mit Lionel Richie ein Ständchen.

Doch der Reihe nach: Ende der 90er, es war die große Zeit des Berlin-Trash, mimte Jason Beck alias Gonzales großmäulig den HipHop-Prankster. Er klatschte seine Songs mit billigen Sounds zu, vielleicht, um ernst genommen zu werden, vielleicht, weil er sich keine anderen Geräte leisten konnte. Sein Label Kitty-Yo baute ihn zum „President of the Berlin Underground“ auf, er hampelte mit seiner Kollegin Peaches im rosafarbenen Showanzug herum, zeigte viel Brustpelz und kiffte. Berlin war stolz, ihn zu haben.

Doch dann hieß es, er sei nach Paris gegangen und dort nun als Pop-Produzent erfolgreich: Jane Birkin und die junge Leslie Feist hätten seine Dienste in Anspruch genommen, die dabei entstandenen Alben seien ganz wunderbar, Björk habe um einen Remix gebeten und Karl Lagerfeld habe bei ihm vor kurzem mit seiner Kamera vorbeigeschaut. In Berlin fragte man sich, was man falsch gemacht hat.

Dieser Gonzales schlappte am Samstagabend in schwarzer Strickjacke und hellen Filzpantoffeln auf die Bühne des HAU 1 und sah ein wenig wie Bill Murray in „Lost In Translation“ aus. Er spielte sich durch sein jüngstes Album „Solo Piano“, auf dem er weder singt noch rappt, sondern Erik Satie und Maurice Ravel mit Stummfilmmusik und Jazz-Akkorden mischt. Eine über den Tasten angebrachte Videokamera übermittelte sein Spiel auf eine Leinwand und der Film, den man sich über seinen Fingern dachte, erzählte von verliebten Kolibris, von bitter verfeindeten Vogelspinnen, vom „eiskalten Händchen“ der Addam’s Family, das plötzlich einen Bruder an seiner Seite hat, und vom einsamen Zeigefinger, der alleine eine traurige Melodie in Moll spielen muss.

Der falsche Optimismus von Dur-Akkorden sei ihm schon immer zuwider gewesen, erläuterte Gonzales schief grinsend. Moll, diese wunderbare Melancholie, habe er schon immer als realistischer empfunden. Dies demonstrierte er gleich noch einmal, indem er „Happy Birthday“ in Moll rutschen ließ – begleitet von heiterem Kichern aus dem voll besetzten Saal. Weiteres Lachen folgte, als Gonzales ankündigte, nun die Melodien einiger Pophits in sein Spiel einzustreuen. Wer sie erkenne, dürfe gerne klatschen. Um den virtuos improvisierenden Meister nicht zu enttäuschen, entwickeln die Zuhörer im Hebbel Theater einen regelrechten Ehrgeiz und applaudierten zu Rod Temperton, Queen und gleich zweimal den Bee Gees. Gonzales’ Verdienst lag an diesem Abend also nicht nur darin, mit seiner neuerdings rein akustischen, „klassischen“ Musik ein überwiegend junges Publikum zu begeistern, sondern auch darin, Popklassiker, die aufgrund ihrer schnauzbärtigen Originalinterpreten sonst nur noch Naserümpfen ernten, zu rehabilitieren.

So blickte man bei einer fantastischen Version von Giorgio Moroders „Maniac“ in das Antlitz eines Musikbesessenen, der weder die Kategorien „E“ oder „U“ gelten lässt, sondern lediglich das, was auf der Tastatur des Alphabets genau dazwischen liegt: „M“ wie „Musik“. Sogar Lionel Richies Kuschelrock-Hit „Hello“ mochte das Publikum noch gerne hören: Als Gonzales sich mit dramatischem Crescendo den Schlussakkorden der Schmonzette näherte, holte der gesamte Saal tief Luft und tönte: „I! Love! You!“ JAN KEDVES