: Fluch über die Pappel
Es ist höchste Zeit: Endlich wird der allerdurchschaubarste aller Bäume beschimpft
Von allen Rätseln, die der Lösung, von allen Krankheiten, die der Heilung harren, von allen Aufgaben, die der Menschheit gestellt sind, war dies die unaufschiebbarste, der härteste Brocken, das zweifellos am heißesten auf den Nägeln lodernde Problem – die Entschlüsselung des Genoms der Pappel, die jetzt endlich, nach Jahrhunderten des Forschens, Bangens und Bosselns am Klappen kam. Ja, die Pappel, der Baum, der unschuldig vor jedem Fenster steht, unauffällig an der Straßenecke wacht, unermüdlich die Bahngleise eskortiert, unaufgeregt Neubaugebiete umgrünt und uneigennützig einstige Tagebauflächen renaturiert! Sie ist der erste Baum der Welt, dessen Genom von Wissenschaftlern vollständig entschlüsselt wurde, wie das französische Institut für Landwirtschaftliche Forschung kürzlich bekannt gegeben hat.
Die Pappel – von vielen wird sie als das perfekte Verbrechen bezeichnet. Es ist keineswegs eine Frage des Aussehens. Zwar kann man uninspirierter, einfallsloser und plumper kaum nach oben wachsen, aber das genuin Verbrecherische dieses so genannten Baumes liegt in der Verweigerung des Schattens. Pappeln spenden nie Schatten, sie stehen immer nur im Licht.
Richtige Bäume heißen Eiche, Buche, Linde, meinetwegen auch japanische Wildkirsche – Pappel heißt niemand und nichts. Richtige Bäume haben Holz für Särge, Gehhilfen oder Gummiknüppel, das Holz der Pappel eignet sich nicht einmal für Sägemehl. Richtige Blätter richtiger Bäume sind richtig grün, das Grün der Pappelblätter hat die Farbe des Inhalts jener Behälter, in die OP-Schwestern übrig gebliebene Körperteile tun. Richtige Bäume blühen präzis und anmutig, wenn’s so weit ist, Pappeln schleudern schlafenden Schwangeren schleimige Batzen ins Ohr.
Zahllos jene Menschen, die unter der Pappel leiden, die zum Arzt gehen, weil sie die Pappel nicht riechen können, die sich gegenseitig in Selbsthilfegruppen über den Anblick einer Pappel vorm Fenster trösten, die der Pappel den Kampf angesagt haben, und sei es nur deshalb, weil sie die Zufahrt zum Parkplatz blockiert. Dass die Pappel nicht besonders helle, sondern, im Gegenteil, der RTL-II-Zuschauer unter den Bäumen ist, war schon lange bekannt. Viele bezweifelten, dass sie überhaupt ein Genom habe. Zu Recht, denn wie sich herausgestellt hat, verfügt sie nur über die lächerliche Anzahl von 40.000 Genen – also exakt so viel wie Spitzenpolitiker, die gewissermaßen die Pappeln unter den Menschen verkörpern. Was nicht heißt, dass jetzt auch automatisch Phänomene wie Guido Westerwelle oder Hans Eichel entschlüsselt wären. Dann könnte man ja gleich einen Blumentopf ans Rednerpult des Bundestages stellen.
Wer allerdings nach Gemeinsamkeiten zwischen Pappeln und Menschen fahndet, stößt auf beängstigende Parallelen. Es sind immer zu viele auf einem Haufen, sie stehen tatenlos herum, sie können mit sich nichts anfangen, grüßen nicht zurück, sind immer weniger verwurzelt und aus keinem echten Holz. Sollten die Wissenschaftler am Ende mit der Entschlüsselung der gemeinen Pappel zugleich ein Parallelpsychogramm des gemeinen Menschen geliefert haben? Dann müssten auch Mord, Ehebruch, Habgier, Alkoholismus, und was dergleichen Charakterkonstanten des Menschen sind, bei Pappeln anzutreffen sein. Wundern würde das keinen mehr. Immerhin: Wenn es rechtsradikale Pappeln gäbe, man könnte sie fällen. Ob bei den rechtsradikalen Politikern, die in die Landesparlamente gewählt wurden, ein paar Waldarbeiter genügen, ist allerdings fraglich.
Bereits jetzt herrscht Hochspannung, welche dringende Menschheitsfrage die Wissenschaftler nach der Entschlüsselung des Pappelgenoms sich vorknöpfen werden. Heiße Kandidaten sind der überschaubaren Anzahl ihrer Gene wegen die Genome der Bild-Zeitung, der SPD, der Bundesligaschiedsrichter sowie des Johannes B. Kerner. Aus den Forschungslabors ist durchgesickert, da wäre nicht viel zu entschlüsseln. Das ist aber genau das Problem. RAYK WIELAND