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Archiv-Artikel

Nein, Justin!

QUENGELWARE Kinder beeinflussen das Einkaufsverhalten ihrer Eltern viel stärker, als diese ahnen. Der Einzelhandel hingegen weiß darum sehr genau

Konsumfakten

Quengelware: Im Kassenbereich machen Supermärkte zehnmal so viel Umsatz wie im Rest des Geschäfts (50.000 Euro pro Jahr und Quadratmeter). In Großbritannien und der Schweiz verzichten Ketten bereits auf Süßes an der Kasse. In Deutschland tun das bisher nur tegut und dm.

Familienmacht: 3.200 Euro geben Haushalte mit Kindern jährlich im Supermarkt aus. Haushalte ohne Kinder nur 2.200 Euro.

Kindererfolge: Kindern, die älter als sieben sind, werden dreimal so häufig Wünsche erfüllt wie jüngeren. Beim Betteln um Produkte, die im Laden verzehrt oder benutzt werden können, sind Kinder doppelt erfolgreich.

Spontankäufe: 40 Prozent aller Einkäufe im Supermarkt waren vorher nicht geplant. Mehr als zwei Drittel der Kaufentscheidungen für bestimmte Marken werden erst im Geschäft getroffen.

VON PAUL WRUSCH

Der Stress steht der jungen Mutter schon am Eingang des Supermarktes ins Gesicht geschrieben. Noch ehe der Einkaufwagen durch den roten Tunnel neben dem Drehkreuz geschoben ist, rennt der fünfjährige Sohn den Gang entlang, biegt links ab und bleibt nach ein paar Metern wild hüpfend vor dem Kühlregal stehen. Die Frau lässt den Wagen stehen und eilt hinterher. „Mama, du musst mir Milchschnitte kaufen“, krächzt der Kleine. „Nein, Justin. Wir haben noch welche zu Hause“ – „Aber ich will die, jetzt!“ – seine Stimme wird schriller, Miteinkäufer drehen sich um. Kopfschütteln. „Nein habe ich gesagt!“ – „Aber ich war heute so lieb“ – die Tränen kullern, die Mutter gibt nach, nimmt einen Fünferpack, reißt eine der süßen, klebrigen Schnittchen ab und gibt sie Justin. Der Rest landet im Einkaufswagen. Mission erfüllt, Ziel erreicht.

Supermarktmonster

Kinder mutieren im Supermarkt zu kleinen Monstern. Wie stark der Einfluss auf die Eltern beim Einkauf tatsächlich ist, haben nun Wiener Konsumforscher herausgefunden. „Das überraschendste Ergebnis war, dass sich die Eltern oft gar nicht bewusst sind, wie sehr ihre Kinder Triebfeder für Spontankäufe sind“, sagt Claus Ebster, Autor der Wiener Studie. Um die Hälfte unterschätzten die Mütter und Väter im Schnitt den Einfluss ihrer Kinder. Nur bei jedem zweiten Produkt also, das nur aufgrund von Schreiattacken und Sich-auf-dem-Boden-Wälzen der kleinen Konsumterroristen gekauft wurde, erinnerten sich die Eltern später an den eigentlichen Beweggrund für den Kauf.

Für die Studie haben die Wissenschaftler 200 Eltern-Kind-Paare beim Einkaufen beobachtete und dabei jedes Wort, jeden Weg und jede eingekaufte Ware heimlich protokolliert. Nachdem die Studienobjekte gezahlt hatten, wurden sie zudem interviewt.

Der Einkauf mit Kindern ist stressig, das weiß jeder, der es einmal erlebt hat. Magnetisch werden die Kleinen von Eis, Schokolade und Plastespielzeug angezogen. Und sie sind Meister der Überzeugung: Wenn sie mit ihren großen Rehaugen vor den Schokoriegeln stehen und flehend „Nur den einen, Mama, bitte!“ sagen, können nur knallharte und routinierte Einkaufs- und Profieltern widerstehen.

Ob Kinder im Supermarkt überhaupt um Überraschungseier und Plasteautos betteln, hängt besonders davon ab, wo die Produkte platziert sind. Was auf Augenhöhe liegt, wirkt für Kinder verlockend. Die Supermärkte nutzen das aus: Im Kassenbereich liegen die Leckereien oft in einer Höhe von 50 Zentimetern – wenn die Kinder frei im Supermarktdschungel umherlaufen, hagelt es dementsprechende Betteleien.

Ob die Eltern dann im Einkaufsstress den Kinderwünschen nach Überraschungseiern und Plasteautos auch nachgeben, hängt vor allem davon ab, wie Sohn oder Tochter fragt. „Ganz schlecht ist energisches, zorniges Betteln“, sagt Konsumforscher Ebster. Die Eltern fühlten sich dann unter Druck gesetzt. Unterschwellige, zögerliche Wunschäußerungen blieben ebenfalls oft ohne Erfolg. „Da konnten sich die Eltern ganz leicht rauswinden“, erklärt Ebster. Die besten Ergebnisse erzielte höfliches, aber deutliches Bitten.

Insgesamt war jedes zweite Betteln, Bitten oder Quengeln der Kinder erfolgreich. Und – wenig überraschend – Väter geben etwa dreimal so häufig dem Wunsch der Kinder nach wie Mütter. Letztere sind meist routinierter und kennen die Tricks der Kleinen besser.

Die größte Herausforderung beim Einkauf mit Kind wartet ganz am Ende, wenn der Wagen voll ist und die Nerven blank liegen, weil schon ein Wutanfall am Kühlregal („Ich will eine Milchschnitte“) und eine Heulattacke vor dem Spielzeugwühltisch („Ich brauche das Plastikschwert“) überstanden wurden: die Kasse. Fünf Minuten in der Schlange können sich endlos in die Länge ziehen, wenn der kleine Justin erst einmal die einzelnen Duplo-Riegel entdeckt hat und sie aufs Band legt.

Bärbel Höhn, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Bundestagsgrünen, kritisiert die Lockangebote an den Kassen. „Der Einzelhandel sollte sich verantwortlich zeigen und verführerische Waren nicht dort präsentieren, wo Kinder mit ihren Eltern in der Schlange warten und direkte Sicht und Zugriff darauf haben“, sagte Höhn der taz. Der Einzelhandel hätte vor Jahren bereits versprochen, Lockangebote für Kinder an den Kassen abzubauen. Doch wie eh und je verführten bunte Süßigkeiten die Kinder dazu, an der Kasse zu quengeln.

„Eltern sind sich gar nicht bewusst, wie sehr Kinder Triebfeder für Spontankäufe sind“

KONSUMFORSCHER CLAUS EBSTER

Moderne Wegelagerei

Als „moderne Form der Wegelagerei“ bezeichnet Brigitte Rittmann-Bauer von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen die „Quengelware“. „Es sollte viel mehr Eltern-Kind-Kassen geben, frei von überteuerten Süßigkeiten oder Plastespielzeug“, sagt sie. Dass die Supermärkte nicht auf Quengelware an der Kasse verzichten, sei allerdings kein Wunder: Im Kassenbereich mache sie zehnmal so viel Umsatz wie im restlichen Laden: 50.000 Euro pro Quadratmeter und Jahr.

Das bestätigt auch Norbert Wittmann, Chef der Nymphenburg Gruppe in München, die Einzelhändler berät, wie sie ihren Laden erfolgreicher machen können. In erster Linie also in Fragen der Kundenmanipulation. Wittmann verteidigt die Strategie der Supermärkte. „Viele Kunden finden die Produkte an der Kasse ansprechend. Sie gönnen sich nach einem stressigen Einkauf noch eine Belohnung“, sagt er. Ohnehin sei es nicht Aufgabe des Handels, Kinder zu erziehen, sondern die der Eltern.

Die Wiener Konsumforscher indes wollen mit ihren Studienergebnissen allen am Eltern-Kind-Supermarkt-Dilemma Beteiligten handfeste Ratschläge geben: „Eltern sollten den Kindern die Sicht versperren, sie also in den Einkaufs- oder Kinderwagen setzen“, sagt Claus Ebster. Es gilt, die Bewegungsfreiheit durch Kinder- oder Einkaufswagen einzuschränken. Was aber nur hilft, wenn die Kinderäuglein dem Erziehungsberechtigten zugewandt sind und die bunten Verführungen so gar nicht erst sehen. Auch ratsam: von zu Hause Spielzeug oder etwas zu essen mitnehmen. „Beschäftigte Kinder quengeln meist nicht“, erklärt Ebster. Doch auch ihnen erteilt er guten Rat: „Nicht erpressen, nicht quengeln, nicht weinen und auch nicht zu subtil fragen“, sagt Ebster. Manieren zahlten sich aus.

Bei dem kleinen Justin hat es allerdings auch ohne Höflichkeit geklappt.