: Wortlose Männer
Istanbul in gleißendem Winterlicht: Der Spielfilm „Uzak“ von Nuri Bilge Ceylan findet überzeugende Breitwandbilder für eine elliptisch erzählte Geschichte um ein Landei und einen Stadtneurotiker
VON CLAUDIA LENSSEN
„Uzak“ gehört zu jenen schönen Filmen, deren Bilderfluss eine subtile, aber eindringliche Protestenergie gegen die Verhältnisse aufbietet, von denen er erzählt. Sein Autor, Regisseur, Kameramann und Ko-Editor Nuri Bilge Ceylan, ein Mittvierziger, zählt sich zu einer ursprünglich vom Land stammenden Bildungsschicht in Istanbul, die von sich sagt, das Kino habe sie gelehrt, wie sie leben sollte.
Es muss etwas mit seiner Generation passiert sein, das sich als komisch-tragisches Krisengefühl breit macht, nicht als heroisches Drama. Ceylans Kunst ist es, diese Frustrationsstimmung in einer minimalistischen Geschichte und einer bedächtigen, zum Schauen verführenden Formsprache auf den Punkt zu bringen: als kleines, präzise beobachtetes Scheitern zweier Männer und zweier Generationen, die sich nichts zu sagen haben. Nuri Bilge Ceylans Kino erzählt von dem Schmerz, nicht mehr zu wissen, wie man leben soll, und schafft das derart reich an Wirklichkeits- und Mitgefühl, dass es die Verliererfiguren niemals aufgibt.
Der stoppelbärtige Mahmut (Muzaffer Özdemir), Single mit der Aura des früh gealterten einsamen Wolfs und den Angewohnheiten eines skurrilen Pedanten, nimmt Yusuf (Mehmet Emin Toprak), einen jungen Verwandten aus dem anatolischen Hinterland, in seine Wohnung auf, weil dieser in Istanbul auf Jobsuche gehen will. Das Anmustern auf einem der großen Schiffe im Hafen klappt jedoch nicht, sodass die beiden vom Winter bis in den ersten Frühling hinein unfreiwillig zusammenwohnen. Der Dramaturgie beiläufiger Wiederholungen und sich allmählich zuspitzender Situationen folgend, entpuppt sich die sprichwörtliche orientalische Gastfreundschaft im kulturellen Clash der Alltagsrituale als fremd gewordenes Klischee.
„Uzak“ bedeutet „fern“ und bezeichnet die Distanz zwischen dem verschlossenen, ewig verfrorenen Landei Yusuf und dem europäisierten Stadtneurotiker. Mahmut verbringt seine Tage zu Hause, wo er im eigenen kleinen Studio Marmorplatten für einen Baumarkt ablichtet. Ob er der Maus in seiner Küche habhaft wird, scheint ihn mehr zu fesseln als seine eintönige Gebrauchsknipserei. Die Fotografie als Kunst sei doch längst tot, erklärt er seinen Freunden, wenn sie ihn an die gemeinsamen früheren Künstlerideale erinnern. Und als er Yusuf auf eine Auftragsreise ins malerische Hinterland mitnimmt und dabei ein traumhaftes Landschaftspanorama entdeckt, fährt er lieber weiter, als dass er die Fotoausrüstung auspackt.
Ceylan erzählt diese introvertierte, über lange Strecken wortlose Männergeschichte im 35-mm-Breitwandformat. Langsame Schwenks und eine elliptisch gebaute Montage schaffen ein Zeit- und Raumgefühl, das über die enge Sicht der Antihelden hinausweist. Gleißendes Winterlicht, aus dem Grün und Rot ausgefiltert sind, überzieht die Bilder mit einem Firnis; viel Schwarz betont die emotionalen Untiefen zwischen den Kontrahenten. Eine exzellente Tonmischung verbindet Vordergründe und Tiefenbereiche der Bilder zu einer surrealen Intimität. Eine sparsam gesetzte Harfenmusik verweigert die bekannten Weltmusikklischees.
Man sieht Istanbul in den Perspektiven der beiden Männer und hat den Eindruck, im Schnittpunkt zweier konträrer Geschichten zu sein, die doch beide von der Abwesenheit der Frauen erzählen. Man schaut zu, wie der Alte und der Junge einander fixieren, wie sie die Straße vor Mahmuts Haus oder die winterliche Trostlosigkeit am Bosporus beobachten und dabei völlig Unterschiedliches wahrnehmen. Yusuf läuft hinter den modernen Frauen der Einkaufspassagen und Kinobasements her, bis sie ihn verärgert abhängen. Mahmut trifft seine stumme Gelegenheitsgeliebte im Café mit einem anderen. Seine Exfrau leidet noch immer unter den Folgen der Abtreibung, die der Trennungsgrund ihrer Ehe war, und verlässt die Türkei mit ihrem neuen Mann. Die rigiden traditionellen Geschlechterverhältnisse gelten in dieser Istanbuler Moderne längst nicht mehr, aber was gilt dann?
„Uzak“ gerät vielleicht deshalb so faszinierend, weil Nuri Bilge Ceylan sich auf ein Team aus Freunden und Verwandten verlassen hat. So, sagt er, ist Filmemachen nicht schwer, man muss nur etwas anderes als die Fernsehkultur schaffen wollen, die die Türkei seiner Meinung nach dominiert. Sein Loser-Porträt räumte seit dem Großen Preis der Jury in Cannes 2003 zahllose weitere nationale und internationale Preise ab – die Geschichte vom Modernitätsgewinnler, der seine Wurzeln verloren hat, wird überall verstanden.