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Archiv-Artikel

„Meine Filme sind realistisch“

„Vera Drake“, der neue Film von Mike Leigh, erzählt von einer Frau, die im England der Fünfziger Abtreibungen vornimmt. Ein Gespräch mit Leigh über die Aktualität seines Sujets, das Improvisieren als Methode und den richtigen Umgang mit Zeitkolorit

INTERVIEW ANDREAS BUSCHE

taz: Herr Leigh, herzlichen Glückwunsch zu Ihren Oscar-Nominierungen! Nun müssen Sie sich in vier Wochen gegen Martin Scorsese und Clint Eastwood behaupten. Wie fühlt sich das an?

Mike Leigh: Gut. Diese Auszeichnungen legitimieren zweifellos all die Anstrengungen, die wir im letzten Jahr auf uns genommen haben – immer vor dem Hintergrund der Frage, ob das Publikum sich für eine solche Geschichte überhaupt interessieren würde. Aber ganz abgesehen davon: Ist es nicht ein Spaß, sich mit den Jungs da drüben eine Nacht herumzutreiben?

Die Nominierungen müssen schon deswegen eine Erleichterung für Sie gewesen sein, weil Sie im Vorfeld große Schwierigkeiten hatten, die Finanzierung von „Vera Drake“ zu sichern.

Ja, das war verdammt schwer. Es grenzt an Wahnwitz, wie wir diesen lächerlich billigen Film am Ende doch noch realisieren konnten, ohne Kompromisse einzugehen. Er ist eine hundertprozentig unabhängige, europäische Produktion. Studio Canal und das britische Film Council haben die Finanzierung von „Vera Drake“ letztendlich gesichert. Trotzdem war unser Budget so knapp, dass wir den Film auf Super 16 mm drehen mussten.

Dass Sie das erwähnen, ist interessant. Die Textur der Bilder wirkte auf mich sehr organisch. Lag das daran, dass der Film von 16 mm auf 35 mm aufgeblasen wurde? Normalerweise verlieren die Bilder in solchen fotomechanischen Prozessen ja eher an Tiefe und Kontrast. Im Falle von „Vera Drake“ scheint mir das Gegenteil der Fall.

Das hat drei Gründe. Kodak hat in den letzten Jahren einen 16-mm-Rohfilm entwickelt, der speziell dafür gedacht ist, auf 35 mm aufgeblasen zu werden. Das ist der erste Grund. Der zweite Grund ist Genialität. Dick Pope, der director of photography, ist ein Genie. Er weiß genau, was er macht, und das Tollste daran ist: Man kann es sehen. Drittens haben wir den Film digital gradiert. Es ist das erste Mal, dass wir das getan haben. Man kann auf digitalem Weg in der Postproduktion inzwischen hervorragende Resultate erzielen.

Wie stehen Sie generell zu digitaler Technologie im Produktionsprozess?

Digitale Technik kann ein unglaublich nützliches Werkzeug sein. Aber man sollte immer vermeiden, die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sie zu lenken. Auf Film zu drehen bleibt aber das Größte. Solange ich die Möglichkeit habe, werde ich das auch tun.

Eine offensichtliche Frage will ich vorwegstellen, damit sie aus dem Weg ist. Abtreibung ist in England seit fast 40 Jahren legalisiert. Warum heute ein Film über Abtreibung, der noch dazu in den Fünfzigern spielt?

„Vera Drake“ ist ein period movie in dem Sinne, dass wir versucht haben, die Fünfzigerjahre möglichst lebendig zu rekonstruieren. Doch zuallererst ist da die Tatsache, dass das Thema in den letzten Jahren durch religiöse Fundamentalisten, nicht zuletzt in der Bush-Regierung, wieder ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten ist. Es gibt Versuche, Abtreibung wieder zu kriminalisieren. Wenn das gelingen sollte, werden zwangsläufig wieder Laien die Arbeit von professionellen Medizinern machen.

Der Film ist interessant auch vor dem Hintergrund, dass England heute die höchste Bevölkerungsrate an minderjährigen Müttern in Europa hat und die Sozialpolitik der Regierung diese Entwicklung weiter fördert. Hätte man nicht einen aktuelleren Bezugspunkt finden können, um einem potenziellen Publikum – erst recht einem amerikanischen – die Problematik näher zu bringen?

Ich nehme für mich nicht in Anspruch, die Antwort auf diese Frage zu kennen. Aber ich würde sagen, dass die Qualität, oder besser: die Solidität des Films alle Fragen nach der nationalen Herkunft des Films transzendiert. Dieser Vorwurf hätte durchaus seine Berechtigung, wäre der Film nicht so ausgewogen geraten.

Mich überraschte vor allem die Darstellung einer repressiven englischen Gesellschaft. Als die Labour Party 1945 nach langer Zeit in der Opposition wieder die Regierung stellte, befand sich England inmitten eines politischen Aufbruchs, der ein sehr liberales gesellschaftliches Klima förderte. Davon ist in „Vera Drake“ wenig zu spüren.

Sie müssen hier eine Unterscheidung treffen. Der Zweite Weltkrieg hatte in England das Erstarken eines kommunitaristischen Gemeinschaftssinns zur Folge. Als Konsequenz dieses sechsjährigen „sozialistischen Ethos“ kam Labour an die Macht. Den Leuten schmeckte diese neue Idee eines starken Wohlfahrtsstaates. Gleichzeitig jedoch hat sich die Geisteshaltung der Arbeiterklasse kaum verändert; sie hat sich nicht radikalisiert. Dazu brauchte es noch zwanzig weitere Jahre. Um die Tragödie der Familie Drake zu verstehen, muss man sich Folgendes vor Augen halten: Vera Drake ist eine respektierte Frau, die Drakes sind eine respektierte Arbeiterfamilie. Dieser soziale Status war von immenser Bedeutung. Und auf einen Schlag ist die ganze Familie ihrer Würde beraubt.

Wie haben Sie für Ihren Film recherchiert?

Wir haben mit Ärzten gesprochen, mit Schwestern, Gynäkologen natürlich, Anwälten, Polizisten, Polizistinnen und Historikern. Wir haben alles über Abtreibung gelesen. Besonders aufschlussreich waren Briefe von Frauen, die selbst wegen Abtreibungen im Gefängnis saßen. Die Menge an Materialien war schier überwältigend, und wir haben uns um größtmögliche Genauigkeit in der Darstellung bemüht. Denn jemand wie Vera Drake war kein Einzelfall. Damals haben tausende von Frauen illegale Abtreibungen durchgeführt – umsonst. Und nicht nur in England.

Besonders genau sind Ihre Beobachtungen des Familienlebens: die Beziehung der einzelnen Mitglieder zueinander, Veras Rolle, aber auch das Verhältnis zwischen Veras Mann Stanley und dessen Bruder. Inwiefern hat Ihre Methode der Improvisation mit den Schauspielern diese Stimmigkeit beeinflusst?

Es ist der einzige Weg, den ich kenne, Filme zu machen. Das geht natürlich nur, weil ich mit intelligenten Schauspielern arbeite, die in der Lage sind, sich ihre Rollen zu erarbeiten.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit?

Ich arbeite zunächst individuell mit jedem Schauspieler, um gemeinsam einen Charakter zu entwickeln. Dieser Teil der Proben beginnt bereits sechs Monate vor den eigentlichen Dreharbeiten. Gelegentlich treffen wir uns, aber die meiste Zeit ist jeder mit sich selbst beschäftigt. Der Vorteil dieser Arbeitsweise ist, dass jeder Schauspieler zum Zeitpunkt der Proben nicht mehr weiß als seine oder ihre Figur. Für mich ist das wie eine Reise. Ich selbst entdecke erst langsam, worum es in meinen Filmen eigentlich geht. Alles, was ich zu Beginn der Proben habe, ist eine lose Struktur. Im Falle von „Vera Drake“ wusste ich, dass der Film von einer grundguten Frau handeln sollte, die von der Gesellschaft zur Verbrecherin gestempelt wird.

Die Bildästhetik unterstreicht diese Atmosphäre von familiärer Geborgenheit. Sie arbeiten in „Vera Drake“ mit dunklen Braun- und Grüntönen und mit wenig Licht. Warum?

Dick Pope, Eve Stewart, unsere Set-Designerin, und ich haben die Gestaltung des Films gemeinsam diskutiert. Als Referenzen dienten uns unter anderem Schwarz-Weiß-Fotografien aus den Fünfzigerjahren. Auf dieser Grundlage haben wir viel herumexperimentiert – mit Filmmaterial, Locations und der Ausstattung.

Ihre Farben basieren auf alten Schwarz-Weiß-Fotografien?

Wir haben für die ästhetische Gestaltung des Films ein übergreifendes Konzept entwickelt. Was ich persönlich an den Farben besonders mag, ist, dass sie sehr elaboriert sind. Sie sind nicht naturalistisch, sondern überhöht. Extrem destillierte Tableaus. Solche gestalterischen Details schaffen eine eigene Welt. Doch anstatt das Zeitkolorit bloß zu reproduzieren, evozieren sie es. Ich habe noch nie einen naturalistischen Film gemacht. Alle meine Filme sind realistisch.

Der Konflikt wird in „Vera Drake“ auf zwei Ebenen verhandelt. Zum einen, im Gerichtssaal, strikt nach dem Gesetzbuch. Diese Abwicklung verschafft der Geschichte eine politische Dimension. Die Familie dagegen beurteilt Veras Taten anhand ethischer Werte. Warum verleihen Sie dem moralischen Standpunkt im Film mehr Gewicht als dem politischen?

Ich möchte gar nicht versuchen, Ihre Begriffe „moralisch“ und „politisch“ in Frage zu stellen. Ganz allgemein dreht sich „Vera Drake“, wie jeder meiner Filme, um die Frage, wie sich ein Individuum innerhalb der Gesellschaft verhält. Hier würde ich nie versuchen, eine Unterscheidung zwischen moralischen Kriterien und einer politischen Perspektive zu treffen. Sie bedingen sich. Ich verstehe Ihre Frage so, warum ich der „aktivistischen Funktion“ des Films gegenüber der rein dramatischen – der Verantwortung des Publikums, sich mit dem moralische Dilemma auseinander zu setzen – nicht den Vorzug gegeben habe. Die Antwort ist einfach: Ich bin nicht daran interessiert, didaktische oder propagandistische Filme auf das Publikum loszulassen.

Wären die Fünfzigerjahre zu früh gewesen, um den moralischen Streitpunkt in einen Fall von politischer Ermächtigung zu wenden?

Öffentliche Debatten zum Thema Abtreibung gab es schon in den späten Dreißigerjahren. Aber die Prämisse Ihrer Frage ist eine postfeministische. Die sexuelle und ethische Revolution brauchte noch einen langen Weg von dort, wo Vera Drake sich befand.

Überzeugend fand ich, wie Sie die beiden entscheidenden Instanzen in der Verhandlung der Abtreibungsfrage herausstellen: das Gesetz und die Medizin, genauer gesagt die Psychologie, beide repräsentiert von Männern. Das hat bis in die heutigen Debatten Gültigkeit.

Ich musste diese Aussage einfach machen. Vera Drake wird diesem ihr völlig fremden Verantwortlichkeitsbereich, diesen extrem feindseligen Männern überlassen. Vor dem Hohen Gericht wird es noch absurder. Da sitzen Männer, in den Fünfzigerjahren, gekleidet in Kostüme und Perücken aus dem 18. Jahrhundert. Und dann gucken Sie mal heute in die Gerichtssäle: Nichts hat sich geändert! Wenn irgendwann einmal die Queen einem Anschlag zum Opfer gefallen ist und wir endlich eine Demokratie etabliert haben, eine Republik England, wird ihnen hoffentlich endlich auch jemand ihre Perücken wegnehmen.