ROBIN ALEXANDER über SCHICKSAL : Am Ende meines wirklichen Lebens
Er kam, um mich zu holen. Ich hatte ihn lange erwartet – und schaffte es, ihm noch mal von der Schippe zu springen
Neulich, an einem Vormittag zu Hause, schreckte mich die Klingel aus der Arbeit. Ich öffnete und – erstarrte. Da standen keine Zeugen Jehovas und kein Yellow-Strom-Vertreter. Sondern: Er selbst. Eine hagere, alterslose Gestalt im schwarzen Mantel, eher ein Schädel als ein Kopf, Kälte und Modergeruch verströmend, eine Sanduhr in der linken Hand und – tatsächlich! – eine lange Sense in der Rechten.
„Aaaaah. Der Tod“, rief ich und sagte schnell: „Ich glaube nicht an Sie. Schon gar nicht in dieser lächerlichen Gestalt.“
„Ich bin nicht der Tod“, sagte der Hagere ruhig: „Ich bin sein kleiner Bruder. Ich bin der Mainstream!“
„Der Mainstream?“, fragte ich ungläubig.
„Ja, genau. Die Mitte der Gesellschaft. Das Gegenteil von Freiheit, Abenteuer, Überraschung, Kreativität. Das Ende des wirklichen Lebens also. Ich komm dich holen. Sag nicht, du hättest mich nicht erwartet.“
Da hatte er Recht: In den letzten Monaten hatte ich ein Auto gezeugt und ein Kind gekauft. Bei der letzten Wahl hatte ich mich ertappt, wie ich „Sportschau“ ankreuzte und jeden Samstag gucke ich SPD. Schon streckte der Mainstream sein knorrige Hand nach mir aus.
„Trinken Sie vielleicht noch einen Kaffee mit?“, versuchte ich Zeit zu gewinnen. Er blickte auf die Sanduhr, überlegte kurz und nickte dann: „Aber nur zehn Minuten. Ich habe noch zu tun.“
Das war meine Chance. Ich musste ihm klarmachen, dass ich doch noch nicht zu den untoten Spießern gehöre.
Wohin sollte ich ihn am besten in meiner Wohnung führen, um zu beweisen, dass ich noch cool bin, hip und Avantgarde? Vielleicht in die Küche, wo am schwarzen Brett noch Flyer von den angesagten Clubs in Johannesburg hängen? Nein: Da hatte ich doch die Ikea-Family-Card angepinnt.
Oder ins Arbeitszimmer, wo immer ein kreatives Chaos herrscht? Nein: Da lag doch glatt die schon jetzt fertig ausgefüllte Steuererklärung für 2004.
Während ich noch überlegte, sah ich mit Entsetzen, dass der Mainstream die Kicker-Bundesliga-Stecktabelle im Flur entdeckt hatte. Er grinste so überlegen, dass ich in Wut geriet.
Ich packte ihn und redete auf ihn ein: „Hören Sie, Mann! Sie haben sich geirrt, und ich kann es beweisen: Hier, schauen Sie nur: Diese selbst gebrannten CDs! Illegal aus dem Netz runtergeladener Kwaito. Ist das etwa middle of the road?“
„Die gehören deiner Freundin“, antwortete er, „du kannst mir nichts vormachen. Du hast sogar kurz überlegt, ob du dir die neue Westernhagen kaufen sollst, mein Junge.“
„Ich, ich, äh, ich fahre einen Suzuki“, warf ich ein.
„Ja, aber vorher hast du ausgerechnet, wie hoch die Leasingraten für einen Passat Kombi sind.“ Er wusste alles.
„Aber, aber, … ich habe illegale Drogen im Haus!“, schrie ich panisch.
„Die sind doch längst vertrocknet.“
Ich war geliefert und hatte nur noch die Chance, an meiner statt einen anderen ans Messer zu liefern. Also denunzierte ich feige: „Und was ist mit meinem Nachbarn? Arbeitet bei den Stadtwerken, hört Pur und schläft nur sonntags mit seiner Frau, wenn bei Christiansen nichts los. Warum holen Sie nicht diesen Erz-Normalo?“
„Er führt leider ein Doppelleben“, sprach der Mainstream und strich sich seufzend über die Sense: „Was ist denn jetzt mit meinem Kaffee? Ich hätte gern geschäumte Milch, braunen Zucker und dazu ein kohlensäurefreies Mineralwasser.“
„Ich hab nur Filterkaffee. Und fettarme H-Milch vom Plus“, antwortet ich.
„Kein Cappuchino, kein Latte? Du besitzt nicht einmal eine Espressomaschine? Krass. Abgefahren. Ist das ein neuer Trend?“ Der Mainstream sah endlich ein, dass er bei mir falsch war, und bat – ehrlich zerknirscht – um Entschuldigung.
Erleichtert brachte ich ihn zur Tür und wünschte ihm noch einen guten Tag.
„Gleichfalls“, antwortete der Mainstream freundlich, und da lächelte er auch schon wieder: „Wir sehen uns.“
Fragen zum Trend? kolumne@taz.de Morgen: Peter Unfried über CHARTS