: Der Mann an ihrer Seite
MIGRANTEN Bei dem Thema Zwangsehe gelten oft nur Frauen als Opfer. Das stimmt aber nicht immer, Männer können ebenso betroffen sein. Auch Senol musste seine Cousine heiraten
■ Freie Partnerwahl ist ein Menschenrecht. Laut Artikel 16 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte darf eine Ehe nur „aufgrund der freien und vollen Willenseinigung der zukünftigen Ehegatten geschlossen“ werden. In Deutschland wurde 2002 die Zwangsheirat als ein Fall der besonders schweren Nötigung ins Strafrecht aufgenommen. Wer andere gegen ihren Willen verheiratet, kann nach momentaner Gesetzeslage mit einer Freiheitsstrafen von fünf bis zu sechs Jahren belangt werden.
■ Die Gesetzesänderung nennen Kritiker wie die Anwältin Seyran Ates unzureichend. Sie fordern einen besonderen Straftatbestand „Zwangsheirat“, der die Opfer besser schützen und härtere Strafen vorsehen soll. Das Land Baden-Württemberg hat 2004 einen Entwurf für eine Gesetzesänderung vorgelegt, Berlin folgte 2005 mit einem abweichenden Vorschlag. 2006 hat die Bundesregierung zu dem Entwurf Stellung bezogen, ein entsprechendes Gesetz wurde bisher nicht verabschiedet.
VON CIGDEM AKYOL
In der Nacht bevor Senol an seine Grenzen gelangte, war er schweißgebadet neben seiner Frau aufgewacht. Er hatte beschlossen, dass es nicht mehr funktioniert: die Ehe mit seiner Cousine. Nur wenige Stunden später verließ er seine Frau. Senol hatte diese Frau nie heiraten wollen, er musste es tun, weil seine Familie es so wollte.
Die Geschichte des 22-jährigen Türken spielt nicht in einem fernen orientalischem Dorf, sondern in einem schlichten Wohngebiet mitten in Köln. In einer Familie, die ihre Kinder und ihre Wurzeln vor der Fremde schützen wollte. Senols Eltern kommen in den Sechzigern als Einwanderer aus dem türkischen Adana ins Rheinland. Er und seine zwei jüngeren Brüder besuchen die Realschule, Senol macht eine Lehre zum Einzelhandelskaufmann. Die Familie ist nicht besonders gläubig, die Mutter trägt kein Kopftuch und selten gehen sie in die Moschee. Der Vater sitzt lieber in der Teestube und spielt Karten.
Senol wusste seit seiner Jugend, dass er der unbekannten Verwandten aus dem Heimatdorf seines Vaters versprochen worden war. Das ist Tradition. Das gilt nun einmal. Damit soll der Zusammenhalt der über tausende von Kilometern entfernt lebenden Verwandten erhalten bleiben. Irgendwann hätten sich die Dinge verselbstständigt, sagt Senol, „bis ich plötzlich auf meiner eigenen Hochzeit stand“. Geheiratet wurde 2007, zuerst in der Türkei, dann in Deutschland. Die 18-jährige Braut trug einen rotes Seidenband, als Zeichen für ihre Jungfräulichkeit.
Das Leben der Ehefrau sollte sich fortan zwischen Herd, Nachbarinnen und Schwiegereltern abspielen, und Senol sorgte für sie, das zumindest wünschten sich die Familien des Paares. Und weil Gegenwehr nicht erlaubt ist, hat Senol stillgehalten. „Es war ein Fehler, keine Frage“, sagt er. Die beiden wohnten in dem Haus seiner Eltern, und schnell war klar, dass sie nicht zusammenpassten. Sie hatten keine gemeinsamen Interessen, sein Türkisch ist brüchig, sie konnte kein Deutsch, und erotisch fühlte sich Senol nicht zu ihr hingezogen. „Im Bett mit meiner Cousine, das ging einfach nicht.“ Sogar an Selbstmord habe er damals gedacht.
Männer müssen stark sein
Die Zwangsverheiratung von Männern ist in Deutschland kein Thema. Opfer von Zwangsehen sind immer jung und weiblich – nicht zuletzt wegen der sogenannten Ehrenmorde, über die berichtet wird, hat sich dieses Bild in der Öffentlichkeit eingebrannt. Und weil die Medien die islamische Männerwelt als einen Parallelkosmos, in dem Möchtegern-Casanovas und raubeinige Unterdrücker leben, zeigen, passt der muslimische Mann als Opfer nicht in die Integrationsdebatte. „Weil sie immer stark sein sollen, führen viele Männer ein Doppelleben oder ersticken gar unter der großen Last, die Ehre der Familie tragen zu müssen“, sagt Kazim Erdogan.
Der Psychologe hat in Berlin-Neukölln eines der ersten Beratungsangebote für türkischsprachige Männer eingerichtet und berät täglich junge Männer, die gegen ihren Willen eine Ehe eingehen mussten. „Wer aber nicht über seine Sorgen reden kann, der neigt zu Depressionen oder im schlimmsten Fall sogar zu Gewalt“, so Erdogan.
Der Druck wurde für Senol immer größer, denn die Schwiegereltern verlangten Nachwuchs. Da überkam ihn immer öfter die Angst, dass er sein Leben fremdbestimmt so weiterführen müsse. Nacht um Nacht mit der Verwandten im Bett, Sex, den er nicht haben wollte, das hielt er nicht mehr aus. Sechs Monate nach der Hochzeit ging er einfach, nur mit einer Plastiktüte in der Hand.
Zunächst konnte er bei Freunden leben, jetzt wohnt er 50 Kilometer von seiner Familie entfernt in einer eigenen Wohnung und hat eine neue Arbeit. Er fürchtet sich nicht vor seiner Familie. Anders als bei Frauen müssen abtrünnige Männer nicht mit Gewalttaten rechnen. Aber für seine Familie ist sein Verhalten eine Kampfansage. Senol hat mit seinem Vater und der Cousine seitdem nie wieder geredet, mit seinen Brüdern telefoniert er regelmäßig. Einmal hat ihn seine Mutter heimlich besucht. Sie verteidigte die Ehe und fragte, warum Senol nicht wie seine Geschwister sein könne, traditionell und fromm. Für sie ist es eine Anmaßung, dass er seine Vorstellungen vom Leben durchsetzen möchte. Wie der Konflikt befriedigend zu lösen ist zwischen ihm und seiner Familie, darauf weiß Senol keine Antwort. Ob er böse sei auf seine Eltern? „Nein, sie wollten doch nur mein Bestes.“ Scheiden lassen will er sich erst mal nicht. Denn den Nachteil hätte dann seine Cousine. In der Türkei würden die Leute darüber sprechen, welche Schande sie über die Familien bringe. „Wo soll sie den hin, wenn wir uns scheiden lassen?“, fragt Senol. „Sie hat doch das größte Opfer gebracht, sie wurde allein nach Deutschland importiert, mehr kann ich ihr nicht zumuten.“ Sie lebt bei seinen Eltern.
Auch wenn es noch keine bundesweite Erfassung aller Fälle gibt, das Thema der zwangsweise Verheiratung von jungen Migranten gehört in entsprechenden Beratungsstellen zum Alltag. Eine Studie des Bundesfamilienministeriums, in deren Rahmen 2004 türkische Migrantinnen befragt wurden, ergab, dass 25 Prozent ihren Partner vor der Hochzeit nicht kannten und bei 50 Prozent der Partner von Verwandten ausgewählt wurde. 17 Prozent von ihnen hatten das Gefühl, zur Ehe gezwungen worden zu sein. Bei einer Erhebung des Berliner Senats 2002 mit mehr als 50 Jugend- und Beratungseinrichtungen wurden 230 solcher Fälle in Berlin aktenkundig.
Eine deutliche Zunahme von Hilferufen hat die Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes 2008 in Deutschland registriert. Allein hier meldeten sich 197 Frauen und Mädchen, die von einer Zwangsehe oder Gewalt im Namen der „Ehre“ bedroht oder betroffen waren. Dies sei ein Anstieg um 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr, teilte die Organisation mit. „Die Dunkelziffer liegt sehr viel höher“, vermutet Jasmine Olbort von Terre des Femmes. Andere Beratungsstellen melden ähnlich viele Hilfesuchende pro Jahr. In Nordrhein-Westfalen etwa, wo es seit 2007 die erste und einzige Onlineberatung gibt, haben sich 2008 200 Hilfesuchende, darunter 28 Männer, gemeldet.
Die Grenze zwischen einer arrangierten und einer Zwangsehe ist nicht immer klar. Migrationsforscher sprechen von Zwangsehen, wenn die Betroffenen unter Androhung von psychischer oder physischer Gewalt in die Ehe gedrängt werden. Beleuchtet wird dabei mehrheitlich die Perspektive der Frauen. „Man geht oft einfach davon aus, dass Männer von arrangierten oder Zwangsehen nur profitieren. So nach dem Motto ‚Dann hat er ja jetzt eine für den Haushalt‘ “, sagt Ahmet Toprak. Der Professor für Erziehungswissenschaften an der Fachhochschule Dortmund hat bisher als einziger Wissenschaftler türkische Männer in Deutschland zum Thema Zwangsheirat befragt. Auch weil die Männer Angst hätten, ihr Ansehen zu ruinieren, würden viele die Situation einfach aushalten. „Der erste Schritt ist immer der schwerste“, so Toprak.
Jasar brauchte 18 Jahre, um den ersten Schritt zu wagen. Den musste er machen, weil seine Frau, die auch seine Cousine ersten Grades ist, ihn nicht mehr wollte. Jasars Vater hatte im türkischen Kayseri einen kleinen Laden, in dem ihm eines Tages ein Mitarbeiter des Arbeitsamts von den Verdienstmöglichkeiten in Deutschland erzählte. 1966 landete der Vater mit seiner Frau in Berlin-Tempelhof. Eine der klassischen Gastarbeitergeschichten: Das Ehepaar arbeitet und bekommt drei Söhne, Jasar ist der Älteste. Seine Kindheit beschreibt er als „sehr schön“.
Wie die Familie von Senol ist auch die Jasars nicht sehr gläubig. Zwar musste er Korankurse besuchen, „aber das war vergeudete Zeit“, lacht der 39-Jährige und trinkt von seinem Bier. Für die Familien sei es schon immer klar gewesen, dass er seine Verwandte aus Belgien heiraten werde. „Sie war die Topfavoritin meines Vaters“, erzählt Jasar. Er selbst habe sich nie ernsthafte Gedanken darüber gemacht. Als seine Noten schlechter wurden und er seltener nach Hause kam, drängten ihn seine Eltern zu der Ehe. Es sollte eine Disziplinarmaßnahme für den unzuverlässigen Sohn sein, dessen Abrutschen man fürchtete. Auf die Idee, sich aufzulehnen, sei er gar nicht gekommen. „Die haben so auf mich eingeredet, ich wollte die nicht enttäuschen. Außerdem war ich viel zu jung, um den Ernst der Lage zu verstehen“, sagt Jasar.
Sie verlangte die Trennung
1988 wurde dann geheiratet, dass Paar wohnte bei seinen Eltern. Erst als sie einen Sohn bekamen, zog die Familie in ein eigenes Heim. „Unsere Ehe war wie ein Haus“, sagt Jasar. „Wenn du ein vernünftiges Fundament hast, dann bleibt es stehen. Unseres ist zusammengekracht.“ Der vermeintlich gute Wille der Eltern ließ sich auf die Dauer nicht mit der Lebensvorstellung des Sohnes vereinbaren. Jasar lebte weiter, als wenn er Single wäre. Er feierte ausgiebig, betrog seine Frau und floh in seine Arbeit als Speditionskaufmann.
Wenn Jasar von seiner Ehe erzählt, dann betont er immer wieder den großen Respekt, den er vor seiner Exfrau hat. „Sie hat die größten Opfer gebracht und sich den ganzen Herausforderungen gestellt, sie hat am meisten gelitten und immer für unsere Ehe gekämpft“, schildert er die Beziehung. Erst nach 18 Jahren beendete die Frau den Kampf um ihre heile Welt. Als Jasar seine Frau nach einem Streit drei Tage lang ignorierte, verlangte sie die räumliche Trennung. 2006 ließ sich das Paar scheiden. „Erst als sie nicht mehr konnte, hat sie mich gehen lassen“, sagt Jasar, der heute allein lebt. Mit seinem Sohn redet er nie über das Thema. „Der soll heiraten wenn er will und wann er will.“