: Dunkler Frühling
Noch tief bis in die späten Neunzigerjahre waren die Fronten in den Schulklassen geklärt: hier die sportlichen Jungs, dort die unsportlichen Nerds, dazwischen zwei Dosenbier-stechende Metalfans, drei Borderline-Punks und vier HipHop-Möchtegerngangster!
Dann folgte in rasender Geschwindigkeit die Digitalisierung der Welt: Web 2.0, MP3, Yu-Gi-Oh! So lange, bis der Subkultur die Formate ausgingen.
In der Zwischenzeit entstanden unendlich viele Nischen, in denen bebrillte Nerds wie die englische Band Hot Chip oder der norwegische Sänger Erlend Øye über Nacht die weltweiten Clubszenen der Sportiven erobern – und wie in der US-amerikanischen Filmkomödie „Napoleon Dynamite“ am Ende tatsächlich auch die Herzen der Mädchen.
Am Anfang des Elektropop-Duos Mittekill, das jetzt sein Debütalbum „You are home“ in Eigenregie veröffentlicht, stand ein Inserat. „Ja, wir haben uns über eine Kontaktanzeige kennen gelernt“, gestehen Sänger Freedarich und Produzent Neurot ziemlich unglamourös in einem Internet-TV-Interview. Bei oberflächlicher, medialer Betrachtung Mittekills läuft man Gefahr, aus Desinteresse am offenbar Uncoolen einfach abzuschalten. Wenn … ja, wenn da nicht diese wundersame Musik wäre, die einen bereitwillig in die Nische von Mittekill folgen lässt – androgyner elektronischer Pop mit lakonischer Lyrik, zu der Rockfans angewidert mutmaßen: „Die betteln doch ihre Mamis um Schokolade an“.
Das kann einem freilich egal sein, denn Freedarich singt etwa im Mittekill-Lied „Liebling Liebling“ Widersprüchliches zum Thema Jahreszeiten, „Der Herbst ist nur der dunkle Frühling“. Dazu pluckern Synthesizer, wie in romantischen Stücken von Aphex Twin paarungswillige Grillen herumzirpen. Und man kann, wenn man denn in den Achtzigerjahren auch nur ein klein wenig Sympathie für Synthie-Bands à la Soft Cell übrig hatte, nur dahinschmelzen vor der gebrochenen Mittekill-Sehnsucht nach allem – vor allem nach Liebe!
Glücklicherweise hat die Band nun ihren Song „Harter Rok“ nochmals zugänglich gemacht. Bei seiner Online-Erstveröffentlichung auf dem Berliner Label Kitty-Yo war er in den Tiefen des Internet untergegangen. Hier klingen Mittekill nach krautiger Schlagerdisco, wie sie auch im Hamburger Pudelclub gespielt wird. Irgendwo auf der Ehrentribüne zwischen den Pudel-Musikavantgardisten Mense Reents und Andreas Dorau wäre noch ein Plätzchen frei. Bevor man gegen Ende von „You are home“ mit der verschrobensten Clubhymne seit langer Zeit – „Wasser oder Wodka“ – in die Nacht entlassen wird, gibt es immer wieder verspielte Billig-Elektronik-Träumereien im Geiste der Boards of Canada zu hören. Jedoch, Mittekill werden aus eigener Promopower ihren Erfolg nicht vorantreiben können. Aber die Leistungsverweigerung hat auch ihre Vorteile. In der Gesangseffektnummer „20.000 Klassen“ geben sie zu verstehen, dass sie schon früher in ihrer Schulzeit aus reiner Überzeugung hängen geblieben sind.
Mittekill waren in der Jugend, der Signatur auf dem CD-Cover nach zu urteilen, wohl eher die rauchenden Jungs aus der Schülervertretung mit dem Kopf voller Quatsch: „Mit dem Kauf dieser Platte steigern Sie Ihr Selbstwertgefühl auf 100 %. Sollte dies binnen eines Jahres nicht der Fall sein, kommt Mittekill vorbei und zeigt Ihnen, wie es geht!“ Das steht auf dem Cover! Die Nischenvielfalt im Cyberspace macht das Schülerleben eben auch nicht einfacher, schon gar nicht, wenn man mitten im Unterricht unerwiderte Gefühle für jemand anderen empfindet. So ist „You are home“ das perfekte Album für den Schule schwänzenden Loser in uns allen: „Allein, allein – nur noch alleiner!“
Mittekill, „You are home“ (Modul 8/Eigenvertrieb)