: Der große Graben
Worum geht es im aktuellen Kulturkrieg in den USA? Um Kämpfe zwischen Liberalen und Konservativen? Um die Hoheit über den Begriff Amerika? Eine Debatte erreicht ihren Höhepunkt
VON SEBASTIAN MOLL
Was die Wiederwahl von George Bush für die amerikanische Linke noch unappetitlicher machte, als sie es eh schon war: Für 22 Prozent der Wähler waren moral values das wahlentscheidende Thema. Die Wirtschaft war mit 20 Prozent deutlich weniger wichtig, der Krieg im Irak bestimmte nur für 15 Prozent, wo sie den Schalter der Wahlmaschine umlegten. Es sind die moralischen Werte, Dummkopf! Niemand konnte also die unangenehme Tatsache wegdiskutieren, dass der demokratische Wahlkampf mit seiner Beharrlichkeit in der Abtreibungsfrage sowie der Gegnerschaft zu einem Verfassungszusatz, der die Schwulenehe kriminalisiert, die Menschen in die Arme von George Bush getrieben hatte.
Seither macht sich in liberalen Hochburgen an der Ost- und Westküste Erschrecken über die Erkenntnis breit, dass hier eine völlig andere Sprache gesprochen wird als in der großen geografischen Mitte des Landes. Für Beobachter, die einen größeren historischen Kontext aufspannen, ist allerdings der tiefe Graben durch die amerikanische Gesellschaft keine ganz so große Überraschung. Gegenwärtig kulminieren Debatten, die untergründig schon seit längerem vorbereitet wurden. Bereits vor knapp 15 Jahren wurde etwa an den gesellschafts- und kulturwissenschaftlichen Fachbereichen Amerikas unter dem Schlagwort „Culture Wars“ ein scheinbar unüberbrückbarer kultureller Grundkonflikt festgestellt und untersucht. „Jede Seite des kulturellen Grabens“, schrieb 1991 James Davison Hunter, „bewohnt eine andere moralische Galaxie.“
In seinem Buch „Culture Wars – The Struggle to Define America“ definierte Hunter den amerikanischen Grundkonflikt als Auseinandersetzung zwischen „orthodoxen und progressiven“ Tendenzen in der amerikanischen Kultur. Die orthodoxe – und in der Regel kulturell konservative – Fraktion, so Hunter, sucht moralische Autorität in einer Instanz jenseits der menschlichen Erfahrung, in der Bibel etwa. Für die progressive Fraktion ist hingegen das Maß von Gut und Böse allein die aktuelle soziale Realität.
Der Dualismus zwischen Orthodoxen und Progressiven zieht sich laut Hunter durch die gesamte Geschichte der Vereinigten Staaten. Bis weit ins 20. Jahrhundert kehrt er innerhalb jeder amerikanischen Konfession immer wieder: zwischen liberalen und konservativen Protestanten, liberalen und orthodoxen Katholiken, liberalen und orthodoxen Juden usw. Erst in den 1980er-Jahren emanzipieren sich der orthodoxe Impuls und der progressive Impuls von den jeweiligen Konfessionen und gehen neue Allianzen ein: Die progressiven Flügel verbünden sich untereinander ebenso wie die orthodoxen. So haben heute, laut Hunter, evangelikale Protestanten mehr mit konservativen Katholiken gemein als mit progressiven Protestanten oder weltlichen Liberalen.
Im aktuellen Kulturkrieg zwischen Orthodoxen und Progressiven geht es laut Hunter demnach nicht mehr allein um die Zukunft einer einzelnen Konfession als Sinnsystem, sondern um „die nationale Identität, darum, wer wir als Nation waren und in Zukunft sein wollen“. Die liberalen Ostküstler und die konservativen Christen sind in ein Endgame um Hoheit über den Begriff „Amerika“ verstrickt.
Aus der Außenperspektive wirkt die Dringlichkeit der Frage, was denn „Amerika“ ist und sein soll, indes eher befremdlich. Der kanadische Kulturwissenschaftler Sacvan Bercovitch sieht eben die Allgegenwart dieser Frage als den Grund dafür, warum sich die beiden Fraktionen so sprachlos gegenüberstehen. In den kulturellen Gründungsdokumenten der Nation, wie etwa der Predigt „City Upon a Hill“ des Puritaner-Anführers John Winthrop wird „Amerika“ als Projekt festgeschrieben, als fortlaufende Verwirklichung einer christlichen Utopie. Das macht es laut Bercovitch bis heute schwierig, in Amerika wirklichen Dissens zu formulieren: „Amerika“ ist eine endlos dehnbare Metapher, die sich jede Position einverleibt. Liberale wie Konservative kämpfen für ihre jeweilige Version einer Utopie von „Amerika“; ein gemeinsames Vokabular für die kontroverse Diskussion von Inhalten gibt es nicht.
Ein Argument, das Amerika als etwas anderes sieht denn als die Speerspitze der Menschheitsgeschichte, bricht die Regeln des öffentlichen Sprechens. Sobald man versucht, das Thema zu wechseln und über etwas anderes zu sprechen als über „Amerika“, ist man unamerikanisch. Der Wettbewerb zwischen Demokraten und Republikanern um die Wählergunst ist demnach immer vor allem ein Wettkampf, wer amerikanischer ist. Der Erfolg der Republikaner beruht nicht zuletzt darauf, dass es ihre PR-Maschine durchweg besser schafft, die Liberalen als unamerikanisch darzustellen.
Der Soziologe Ronald Dworkin sieht ebenfalls den gegenwärtigen amerikanischen Kulturkampf als dringlich geführten Krieg um die nationale Identität. Allerdings verortet er den Kampfplatz in den Tiefen der Sozialisation: Verhandelt werde dabei ein Paradigma von Identitätsbildung selbst. Das Amerika des 19. Jahrhunderts habe sich laut Dworkin durch seinen Individualismus von Europa entfernt; das alte amerikanische Individuum habe sich jedoch noch immer in einem transzendentalen Kontext gestellt – es habe sich etwa, wie das amerikanische Individuum von Bercovitch, als göttliches Werkzeug bei der Verwirklichung einer weltlichen Utopie begriffen.
Im ausgehenden 20. Jahrhundert habe sich dieses Individuum jedoch aus seinem transzendentalen Kontext herausgelöst. Die Verwirklichung der amerikanischen Utopie und die Selbstverwirklichung seien identisch geworden. Die christliche Rechte etwa versuche zwar, das alte amerikanische Selbst des 19. Jahrhunderts, das sich als edles Werkzeug göttlicher Vorsehung begreift, wieder aufleben zu lassen, auf Dauer sei dies jedoch zum Scheitern verurteilt. Das Modell des „expressiven Individuums“, wie Dworkin es nennt, werde unweigerlich als Sieger aus dem amerikanischen Kulturkampf hervorgehen – schon jetzt könnten sich der Exhippie und der Wall-Street-Banker im Prinzip auf die narzisstische Selbstverwirklichung als obersten kulturellen Wert einigen.
Harold Bloom, dessen Buch „The American Religion“ 1991, fünf Jahre vor Dworkins Buch über die „Culture Wars“ und das „Imperial Self“ erschien, stellt indes eine beinahe gegenteilige Diagnose. Bloom ist sich zwar mit Dworkin über das Primat des Individuums einig, er sieht jedoch gerade das krass-individualistische amerikanische Selbst zuvorderst als ein religiös verfasstes an. Die amerikanische Religiosität zieht sich laut Bloom durch die gesamte amerikanische Gesellschaft. Sie sei jedoch eine gänzlich neue Art der Gläubigkeit, mit keiner anderen der Weltreligionen vergleichbar. Das selbstverliebte amerikanische Individuum sieht sich bei Bloom quasipantheistisch als Teil des Göttlichen.
Das amerikanische Selbst von Harold Bloom ist ein gnostisches, indem Gotteserkenntnis und Erlösung verbunden werden. Für das amerikanische Selbst ist die Schöpfung der Fall und Amerika das Land, das aus der Menschheitsgeschichte heraustritt. Hier kann das Pneuma – der göttliche Funke im Individuum – mit seinem Ursprung allein sein: „Wir wissen von einem Selbst im Selbst, einem Selbst vor jeder Schöpfung, und dieses Wissen führt zu Freiheit. Einer Freiheit am Abgrund allerdings – einer Freiheit von Geschichte, Natur und von allen anderen Individuen.“
Bloom sieht die amerikanischen Religionen – Mormonen, Baptisten, Katholiken, amerikanische Juden, Muslime – alle als Ausprägungen der Gnosis, die er die amerikanische Religion nennt. Die amerikanische Religion sei eine Spiritualität, die keiner Konfession bedarf und der neun von zehn seiner Landsleute anhängen. Bloom ist gerührt vom amerikanischen Glauben an das Selbst, von einer Nation von Individuen, die sich selbst lieben und von Gott geliebt werden. Aber es schaudert ihm vor den politischen Implikationen seiner Entdeckung.
Den gegenwärtigen Graben in der amerikanischen Gesellschaft sieht Bloom nicht wie Dworkin zwischen säkularem und transzendentalem Individuum. Auf der einen Seite der amerikanischen Individualisten stehen für ihn einerseits diejenigen, die die amerikanische Religion – begründet etwa in der romantischen literarischen Tradition von Ralph Waldo Emerson und Walt Whitman – als poetische, spirituelle Suche begreifen. Dazu rechnet er beispielsweise liberale, progressive Intellektuelle wie sich selbst. Auf der anderen Seite sieht er diejenigen, die „aus Furcht vor dem Tod die Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele krude literalisieren“. Damit meint Bloom ganz unumwunden die christlich-fundamentale Rechte, die er eine „üble Karikatur der amerikanischen Religion“ nennt.
Den Griff nach der politischen Macht durch die christlichen Fundamentalisten verortet Bloom bereits im Jahr 1979, als die Reagan-Fraktion, die zuvor die Kirchen des amerikanischen Südens hinter sich geeint hatte, die republikanische Partei übernahm. Schon die Kriege Reagans gegen Libyen und Grenada nannte Bloom religiöse Kriege, ebenso den Golfkrieg von Vater Bush. Allerdings sei damals nicht etwa gegen den Islam gekämpft worden, sondern „gegen alle, die sich gegen den Status des Selbst als Standard des Seins und allen Wertes stellen. (…) Eine Religion des Selbst ist keine Religion des Friedens, denn das amerikanische Selbst neigt dazu, sich durch seine Kriege gegen das Andere zu definieren.“ Innenpolitisch sorgt sich Bloom dagegen darum, dass der Religion des göttlichen Funkens jegliche Sorge um die Gemeinschaft fremd ist und die Hilflosen gnadenlos durch die Elite ausgebeutet werden.
Harold Blooms Hellsicht im Jahr 1991 lässt einen heute erschaudern. Dass Blooms Warnungen weitgehend ungehört blieben, lag indes vielleicht daran, dass auch er bekennender Teil dessen ist, was er beschreibt. Die amerikanische Religion vor der amerikanischen Religion – vor den pneumatischen Schamanen, wie Bloom die christliche Rechte nennt – zu retten ist jedoch nichts anderes, als „Amerika“ vor den realen Vereinigten Staaten zu bewahren. Ein Ziel, das für den Amerikaner offenbar so unerreichbar ist, wie es unmöglich ist es aufzugeben.