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Archiv-Artikel

Früher oder später kriegt er dich

Der Karneval. Organisierter Frohsinn. Sitzungen. Kollektives Delirium. Zum Karneval nach Köln? Besser, man bleibt daheim – oder?

AUS KÖLN STEFAN KUZMANY

Zum Karneval nach Köln? Auf diese Ankündigung gibt es nur zwei Reaktionen. Die eine: „Du spinnst.“ Es sei voll. Es sei laut. Es sei unerträglich. Diese Rheinländer, fröhlich zwar, aber aufgesetzt fröhlich. Dieses Kölsch, kein richtiges Bier. Viel zu kleine Gläser. Nach wenigen Minuten bereits abgestanden. Und vor allem: der Karneval. Organisierter Frohsinn. Sitzungen. Man kennt das aus dem Fernsehen. Büttenreden, die kein Mensch versteht, und wenn man sie verstünde, wären sie nicht lustig. Besser, man versteht sie also nicht. Noch besser: man bleibt daheim. Nicht zum Karneval nach Köln. Bleib bloß weg.

Und dann sind da die anderen: die Kölner, die Wahlkölner und die Exilkölner. Menschen, die begeistert berichten von einer jahrhundertealten Tradition, von der Freude am gemeinsamen Gesang und einer Zeit der kollektiven Entgrenzung, der Befreiung von Regeln und Gesetzen, der alles und alle verbindenden Atmosphäre. Oder, etwas weniger ethnologisch verbrämt, dafür aber wohl ehrlicher, von der Möglichkeit, einige Tage unglaublich viel zu saufen und Frauen aufzureißen: Rausch – Geschlechtsverkehr – Rausch, immer wieder von Weiberfastnacht am Donnerstag bis zur Mitternacht am Faschingsdienstag. Der Kölner Express und auch die ansässige Bild-Zeitung verbreiten seitenweise Tipps, wie die „jecken Wieverhätzen“ zu erobern seien. Die Express-Anleitung mit dem Titel „Karneval geht alles. Aufreißer Toni verrät seine Tricks“ beispielsweise entpuppt sich dann allerdings als zusammengeschriebene Männerfantasie („Sie zog mich sofort aus dem Foyer zu den Fahrstühlen. Dort ging es sofort zur Sache.“) mit politisch korrektem Schluss: „Wenn eine Frau ‚Nein‘ sagt, dann meint sie es wahrscheinlich auch so. Und das muss Mann akzeptieren.“

„Was? Du hast deine Freundin dabei?“ Der Kollege, Wahlkölner, ist amüsiert, denn Karneval mit Freundin, das ist unbedarft. Er findet’s aber super. Selbst geht er lieber ohne Frau, mit erstaunlicher Begründung: da werde so heftig geflirtet, und dann müsse er immer aufpassen, und das sei anstrengend und wenig entspannt. Obwohl es also offenbar auch um Entspannung geht beim Karneval, sind vor die große Entgrenzung doch einige Regeln gesetzt. Als reiche es nicht aus, dass man sich für Köln entschieden hat, um hier den Karneval zu feiern, und nicht etwa nach Düsseldorf gefahren ist, was vollkommen unakzeptabel gewesen wäre, gibt es eine weitere Vielzahl von Abgrenzungsregeln zu beachten. Die Distinktion steckt im Detail.

Je nach Befragtem sollte man sich also unbedingt/keinesfalls in die Altstadt, die Südstadt oder auf die rechte/linke Seite des Rheins begeben. Du darfst auf keinen Fall eine echte Sitzung verpassen beziehungsweise solltest dich unbedingt vor einer solchen hüten. Du musst die Texte der wichtigsten fünf Karnevalslieder auswendig kennen und beispielsweise wissen, dass die Gruppe „BAP“ übersetzt „Vater“ heißt und „Die Karawane zieht weiter, der Sultan hät Düsch“ nicht etwa bedeutet, dass der Sultan durchhält, sondern, ganz im Gegenteil, dass er Durst hat und es deswegen schnell weitergehen muss zur nächsten Wasserstelle. Es sind fast schon verdächtig viele Ratschläge, die dem Fremden auf dem Weg zum großen Rausch mitgegeben werden, dass man denken könnte, die Kölner und Kenner hätten Angst, der Besucher könnte unangeleitet die völlig falschen Eindrücke gewinnen und verbreiten und auf diese Weise den geliebten Karneval in den Dreck ziehen, was zweifellos noch schlimmer wäre, als denselben in, Gott bewahre, Düsseldorf zu verbringen.

Die Verkleidung übrigens ist überhaupt kein Problem, die bekommst du am besten im Karstadt-Obergeschoss, die Kannibalenperücke für rund zwanzig Euro, das Priestergewand für dreißig, mit passendem Hut für fünf, die Verkleidung „Military Woman“ für ebenfalls rund dreißig Euro. Die ist insofern bemerkenswert, als die junge lachende Frau auf dem beigefügten Serviervorschlag aussieht wie eine bosnische Trümmerfrau.

So verkleidet sich keine. Endlich abends vor dem richtigen Lokal, in diesem Fall der „Mainzer Hof“ in der Südstadt, kann man in der Schlange vor der Garderobe schon die erste Vorauswahl treffen, mit welcher dieser sexy Schlangenfrauen, sexy Cowgirls, sexy Hexen etc. es sich noch lohnen könnte, im Laufe der Nacht ins Gespräch zu geraten. Wäre da nicht die Freundin dabei. Die hat zwar gesagt, es sei Karneval und also durchaus erlaubt, mit einer anderen herumzumachen, aber erstens wird man das Gefühl nicht los, dass sie da nur einen Scherz gemacht hat und man die leichtfertige Inanspruchnahme dieses Angebots noch bitter bezahlen müsste. Und zweitens, was wäre denn, wenn sie es doch ernst gemeint hätte? Das würde ja bedeuten, dass sie selbst mit einem dieser zahlreichen Matrosen, Scheichs oder vielleicht mit diesem Bob Marley da, der schaut schon so, was will der denn?

Jetzt erst einmal ein Bier, aber das ist nicht so einfach, denn jetzt sind wir drin, und es gibt kein Vorne und Hinten mehr, kein Oben und Unten, keine Richtung, nur noch Menschen, jede Menge Menschen, wann haben die angefangen zu trinken? Alle sind schon vollkommen blau, da vorne scheint der Tresen zu sein, vier Kölsch, per Handzeichen bestellen, an verbale Kommunikation ist nicht zu denken, es ist zu laut, und aus den Boxen der Musikanlage dröhnen ausschließlich und immer wieder gleich: Karnevalslieder. Keine Weather Girls mit „It's raining men“, kein „We will rock you“ von Queen, nur die immer wieder gleichen Karnevalslieder, deren Refrain doch versäumt wurde, auswendig gelernt zu werden, was sich jetzt als großer Nachteil entpuppt, denn, wie schon der WDR im Karnevalsdossier seiner Homepage vermerkt, hat man mit Textkenntnis eine „bärenstarke Ausstrahlung“, aber ohne, naja. Es dauert aber nicht lange, bis sich die wichtigsten Zeilen eingeprägt haben, so oft werden die Refrains wiederholt und wiederholt und mitgesungen und noch mal und noch mal und alle zusammen jetzt: „Da simma dabei, dat is pri-hima – Viva Colonia!“ und „Trink doch ene mit, stell dich ned a so a“, denn: „Hast du auch kein Geld, is doch janz ejal“ und „Superjeile Zick“, was wohlgemerkt nicht etwa eine attraktive, im Umgang etwas schwierige Frau bezeichnet, sondern eine tolle Zeit. Das alles ist schnell gelernt und nach dem etwa zehnten Kölsch auch dermaßen verinnerlicht, dass man voller Inbrunst die achte Wiederholung des rührseligen Stückes über „Unser Veedel“, unser Viertel, den geliebten Stadtteil mitsingt, als wohne man schon von Geburt an hier und habe nicht etwa Schwierigkeiten, den momentanen Standort auf dem Kölner Stadtplan zu finden.

Rührselig wird es mit späterer Stunde immer mehr, es mag am Priesterkostüm liegen, dass immer mehr Menschen ihr Herz ausschütten wollen, und obwohl es eher noch voller geworden ist als am Anfang, hat sich der Körper offenbar gewöhnt und es ist wieder möglich, Gespräche zu führen. Marcus hat seinen Führerschein wegen Alkohol verloren, geschieden ist er auch, hat einen kleinen Sohn, den er nur selten sieht, jetzt ist er als Mammutjäger unterwegs. Miriam redet, wer weiß warum, immer wieder davon, dass sie auf gar keinen Fall lesbisch ist, die unlesbischste Frau auf Erden, und, eines muss sie noch erzählen, sie hat einmal Kokain genommen und eine ganze Flasche Wodka alleine ausgetrunken, ihrem Mann, der daneben steht, sind diese Geschichten erstens neu und zweitens peinlich. Jetzt ist alles ein Veedel, unser Veedel, ejal, wat auch passiert, wildfremde Menschen reichen ein Kölsch herüber und noch eines, es scheint ständig einer unterwegs zu sein mit einem frischen Kranz, das sind die Tablettgestelle für die Kölsch-Reagenzgläser, und noch mal singen, und eine weitere Beichte. Die sexy Cowboyfrau vom Eingang will ihre Sünden loswerden, warum nicht. Da pirscht sich schon wieder Bob Marley an. Egal jetzt.

Am nächsten Tag, so gegen zwölf Uhr mittags, wenn man sich wieder bewegen kann und durch das geschlossene Fenster aus der nächsten Kneipe schon wieder dieselben fünf Karnevalshits auf Dauerschleife in deinen noch benebelten Kopf dröhnen, musst du dich entscheiden. Im Kühlschrank steht noch Kölsch.