Mein persönlicher Migrant

MODERNE ZEITEN Wo die Technik das Tempo vorgibt, erhält das Live-Erlebnis einen neuen Stellenwert: Das Festival Theaterformen in Hannover lebt von der Nähe zum Publikum

Auf der Leinwand sind laufende Beine zu sehen, die Schauspielerin muss hinterher

VON KLAUS IRLER

Sie hat dunkle Augen, schwarze Locken, rot geschminkte Lippen und könnte aus dem Iran sein. Oder aus dem Libanon. Sie trägt einen grauen Blouson, eine braune Hose und eine schwarze Ledertasche. Sie ist ungefähr Anfang 40 und könnte Erzieherin sein. Ist sie aber nicht. Wir wissen nicht, was sie tut, nur, dass sie eine Migrantin ist und in Hannover lebt. Ihr Name ist Nasrin. Sie ist eine der Akteure des Stückes „Niemandsland“, das derzeit im Rahmen des Festivals Theaterformen gezeigt wird.

Nasrin steht an diesem Nachmittag auf dem Gehsteig in der Nähe des Bahnhofs Hannover. Ihr gegenüber stehe ich mit einem Abstand von zwei, drei Metern. Sie schaut mir direkt in die Augen, ihr Gesicht ist freundlich. Ich trage einen Kopfhörer und höre eine Stimme, die nicht die von Nasrin ist, aber trotzdem sagt: „Hallo, das bin ich. Mein Gesicht, meine Augen, meine Beine.“ Es ist eine unangenehme Situation, wie wir da so stehen, zwei, drei Minuten, Auge in Auge auf dem Gehsteig. Eine Form der Kommunikation, die man nicht kennt. Und darum geht es zu diesem Zeitpunkt des Stücks: Das Erlebnis, nicht mehr auf gewohnte Weise kommunizieren zu können. Das Erlebnis des Fremdseins.

Ich werde die kommenden 50 Minuten mit einem Abstand von drei Metern hinter Nasrin durch Hannover gehen und über den Kopfhörer einen Monolog hören darüber, wie es ist, als Migrant nach Deutschland zu kommen.

Die Arbeit „Niemandsland“ ist so konzipiert, dass pro Aufführung 20 Migranten je einen Zuschauer durch die Stadt führen. Der Text, den sie dabei über Kopfhörer hören, ist nicht die persönliche Geschichte des jeweiligen Migranten, sondern besteht aus Versatzstücken der Einzelschicksale, die Regisseur Dries Verhoeven im individuellen Gespräch erfahren hat, und aus Fragen und Gedanken allgemeiner Art. Trotzdem haben alle Zuschauer am Ende des Rundgangs ein persönliches Verhältnis zu ihrem Stadtführer entwickelt. Es ist ein Rundgang, der auf eine eigentümlich Art Intimität hergestellt hat – und hängen bleibt, rational und emotional.

Dem Konzept des Festivals Theaterformen in Hannover kommt die Arbeit „Niemandsland“ sehr nahe. Festivalleiterin Anja Dirks geht es beim diesjährigen Programm um die direkte Theatererfahrung – ihr Programm ist ein Gegenentwurf zu den Zeiten, in denen Monitore auf den Bühnen das zeitgenössische Theater prägten.

Zirkus, Open-Air, Cabaret

Für das Live-Erlebnis nutzt das Theater viele Formen. Vertreten sind neben Verhoevens sehr moderner Live-Art viele Formate mit Tradition: Die marokkanische „Groupe acrobatique de Tanger“ um Regisseur Aurélien Bory beispielweise macht Zirkus in neuer Form. Die belgische Compagnie Marius zeigt ihre Adaption von Samuel Becketts Hörspiel „Alle die da fallen“ auf einer Holzbühne im Freien, um Nähe zum Volk herzustellen. Und das britische Trio „1927“ arbeitet in seinem Stück „Between the Devil and the Deep Blue Sea“ dann doch mit bewegten Filmbildern, allerdings mit denen der Stummfilmzeit, als der Film noch vom Theater lebte.

Bei „1927“ stehen zwei Schauspielerinnen mit weiß geschminkten Stummfilmgesichtern vor einer Leinwand und spielen mit den bewegten Bildern hinter ihnen. Erzählt werden makabere Kurzgeschichten, die an das Cabaret der 1920er Jahre angedockt sind. Es gibt viele Tode, psychopathische Geschwister – alles das ist sehr gut gemacht, ist aber auch schnell wieder vergessen – mit Ausnahme des Schlussbildes. In dem steht eine Schauspielerin hinter einer Leinwand, die ihr bis zur Hüfte reicht. Auf der Leinwand sind die Filmbilder von laufenden Beinen zu sehen, und die Schauspielerin muss mit den Armen die Laufbewegung mitmachen. Die Technik gibt das Tempo vor. Moderne Zeiten eben.

Absolut entschleunigt ist dagegen das Langzeitprojekt „Meine Großeltern“. In der Cumberlandschen Galerie wurden inmitten des maroden Schicks Sitzecken und Regale aufgestellt. Dort zeigen kleine Monitore Familienfotos. Über Kopfhörer können die Besucher hören, wie unterschiedlichste Leute von ihren Großeltern erzählen. Fotos und Geschichten gehören zusammen, brauchen einander aber nicht. Diese Anordnung entstammt dem „Erinnerungsbüro“ des Theatermachers Mats Staub, das wie ein dokumentarisches Hörspiel funktioniert: Es gibt Geschichten wie die von Sascha aus Hannover, der die Kriegserlebnisse seines Großvaters verstehen wollte, den Großvater aber nie zu einem Gespräch bewegen konnte. Oder Ursula aus Wien, deren Oma in Bukarest in aristokratischem Wohlstand aufwuchs und nach der Machtübernahme durch die Kommunisten als Straßenbahnschaffnerin arbeiten musste.

„Meine Großeltern“ ist bezeichnend für einen weiteren konzeptionellen Schwerpunkt des Festivals, nämlich den, das „Geflecht von Beziehungen, Erzählungen und Erinnerungen zu untersuchen, in dem die Menschen lebten“, so Festivalleiterin Dirks. Mit einer Theateraufführung im engeren Sinne hat das dann nichts mehr zu tun, wohl aber mit Erzählformen. Aber solche Unschärfen lassen sich gut aushalten – weil es genug Formen gibt auf dem Festival. Es lässt sich viel entdecken.

■ Festival Theaterformen noch bis zum 21. Juni

Infos: www.theaterformen.de