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Archiv-Artikel

Samtmanns Familienabend – fünf Jahre später“, ein Stück Dokumentartheater mit Gästen auf Kampnagel Fliegende Tische

„Wie kann man dokumentieren, ohne zu denunzieren?“, fragten sich die Regisseurinnen Nicola Unger und Regina Wenig vor fünf Jahren. Als Antwort auf Big Brother & Co. holten sie 1999 Familie F. aus Seevetal bei Hamburg auf die Kampnagel-Bühne: Mama, Papa, vier Kinder und den Hund Gipsy. Der Jüngste war damals zwei, die älteste Tochter in ihrer Punk-Phase.

Im Gegensatz zum Reality TV ließen die Regisseurinnen dem Voyeurismus allerdings keine Chance: Wenn eine Geschichte unangenehm wurde, dann verließ die betroffene Person die Bühne, statt sich den Blicken des Publikums auszusetzen. „Wir haben den Hunger nach Bildern nicht befriedigt“, erzählt Nicola Unger. Jetzt, fünf Jahre später, gastieren sie wieder auf Kampnagel und zeigen die zweite Staffel ihres Dokumentartheaters: Samtmanns Familienabend – fünf Jahre später heißt das Stück. Der Kleine ist inzwischen acht Jahre alt und leidenschaftlicher Fußballer, die älteste Tochter hat mit 19 ihre Punk-Phase hinter sich; die Eltern sind beachtliche zwanzig Jahre zusammen und weiterhin Fans harter Musik. Rammstein, Tote Hosen und Loikämie stehen im CD Regal ihres Reihenhaus-Wohnzimmers.

Mit Theater haben die F.s im richtigen Leben nichts zu tun. Mehr wollen die Regisseurinnen über ihre Protagonisten nicht verraten. „Entscheidend in unserem Dokumentartheater ist die Begegnung mit dem Publikum, und das braucht kein großes Vorwissen über die Familienmitglieder. Wichtig ist: Hier handelt es sich um eine Traditionsfamilie mit extrem langen Bestand“, sagt Regina Wenig. Die F.s repräsentieren die Spezies der „ganz normalen Familie“, die heute so exotisch geworden ist.

Mit seinem neuen Stück will das Regieduo untersuchen, was diese Familie zusammenhält. „Wir betrachten die Familie als Struktur, in der die politische und die innere Welt zusammenfließen“, erklärt Nicola Unger. Die Familie wird sich auf Kampnagel in einem fiktiven Wohnzimmer präsentieren, mit Ohrensessel und Laminatfußboden. Der Wohnzimmertisch hängt wie ein Damokles-Schwert an der Decke. Er schwebt erst herab, wenn der Gast auftaucht. In jeder der sieben Veranstaltungen kommt ein anderer. Angefragt sind die Wa(h)re Liebe Moderatorin Lilo Wanders alias Ernie Reinhardt, der Sänger Campino sowie Petra Gerster, heute-Moderatorin und Autorin des Buchs Der Erziehungsnotstand. Wie wir die Zukunft unserer Kinder retten.

Zugesagt hat auch der Chaosforscher Otto Rösler. Der Gast bringt ein Geschenk mit, die Familie bewirtet ihn, „und dann gibt es etwas zu sagen oder nicht“, sagt Regisseurin Unger. Eine echte Begegnung also mit ungewissem Ausgang und der einzige improvisierte Part.

Insgesamt lebt das Stück vom Wort. Die Regisseurinnen haben mit der Familie viele Interviews geführt, in Anlehnung an den Fragebogen von Max Frisch: „Fühlst du, Blutsverwandtschaft ist schöner als Seelenverwandtschaft? Oder: Liebst du jemanden, und woher weißt du das?“ Aus dem Berg von Antworten haben Unger und Wenig zusammen mit der Familie den Text geschrieben. „Wir erzählen darin quasi diese Interviews. Man wird den Abend mögen, wenn man mag, Erzählen zu erleben“, prognostiziert Regina Wenig.

Ein bisschen fürs Auge versprechen die Videoschnipsel von den F.s im Windkanal des Meteorologischen Instituts der Universität Hamburg. Mit dem Test wollte das Regieteam mehr über die Struktur der Familie herausfinden. Das Ergebnis: Die F.s hielten dem Gegenwind Stärke sechs locker Stand. Daraus schloss der Versuchsleiter Bernd Leitl: „Die Familie kann nichts so schnell auseinander bringen.“

Ist es nur Ironie, die Familie naturwissenschaftlich zu beschreiben? Auch, aber mehr noch ein Anstoß zu einer neuen Art, sich mit diesem vom Aussterben bedrohten Modell auseinander zu setzen. Dazu wollen die Regisseurinnen ausdrücklich anregen. Deswegen haben sie auch Hamburgs Familiensenatorin Birgit Schnieber-Jastram als Gast eingeladen – und eine Absage erhalten. Katrin Jäger

Uraufführung: Mi, 16.2., 19.30 Uhr, Kampnagel. Weitere Aufführungen: 18.–20. sowie 23., 25.+26.2.