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Archiv-Artikel

Das Messer im Rücken der Nachbarn

Nordkorea demütigt alle gleichzeitig: China, Japan, Südkorea. Muss Kim Jong Il wegen interner Machtkämpfe ungewollt nach außen Stärke zeigen?

PEKING taz ■ Alle Nachbarn sind vor den Kopf gestoßen. Den Südkoreanern erscheinen plötzlich alle Anstrengungen ihrer Sonnenscheinpolitik umsonst. Die Chinesen sind mit ihrem diplomatischen Latein am Ende. Und Japan steht eine neue Aufrüstungsdebatte ins Haus. Welchen Nutzen aber zieht dann Nordkorea aus der Affäre? Das ist wohl die schwierigste Frage, die sich nach den gestrigen Erklärungen aus Pjöngjang stellt. Selbstmörderisch hat das Regime dort noch nie agiert, doch häufen sich seit einigen Monaten die lange Zeit verstummten Spekulationen über interne Machtkämpfe, der die Atom- und Außenpolitik diesmal zum Opfer gefallen sein könnte. Muss Diktator Kim Jong Il also ungewollt Stärke zeigen, um seine innenpolitischen Gegner im Griff zu behalten? Eine andere Erklärung geht von der derzeitigen Schwäche der US-Politik in Nordostasien aus. Sie könne sich aus außenpolitischen und ökonomischen Gründen nicht mehr leisten, sich China zum Feind zu machen. Folglich könne Nordkorea ohne Gefahr seine militärische Stärke ausbauen. Denn China, so das vermutete Kalkül Pjöngjangs, könne den Verbündeten Nordkorea nicht aufgeben.

In Wirklichkeit aber dürften die Ankündigungen Nordkoreas in Peking derzeit große Kopfschmerzen auslösen. Ein chinesischer Diplomat benutzte kürzlich ein altes Sprichwort, um Nordkoreas Haltung gegenüber China zu beschreiben: „Dir öffentlich schmeicheln, aber bereit, dir jederzeit mit dem Messer in den Rücken zu stechen“. Genau das scheint jetzt geschehen, nachdem Pjöngjang noch im Januar die von China geführten Sechser-Gespräche lobte, nur um sie gestern „für unbestimmte Zeit“ auszusetzen. Pekings Vermittlerrolle ist damit als uneffektiv entlarvt. Der angeblich große Einfluss Chinas auf seinen kleinen Nachbarn vor der Weltöffentlichkeit der Lächerlichkeit preisgegeben. Wie aber wird Peking auf die nun fällige Behandlung des Nordkorea-Problems im Weltsicherheitsrat reagieren? Auf dem Spiel steht Chinas erst seit kurzem auch im Westen anerkannte Rolle als verantwortlich handelnde Großmacht. Aber ebenso auf dem Spiel steht Chinas letzter wirklicher Verbündeter. Pjöngjang fallen zu lassen, hieße für Peking, dass die US-Armee an die chinesische Grenze vorrücken könnte. Das ist keine Option chinesischer Außenpolitik – aber nordkoreanische Atomwaffen sind es auch nicht. Sie könnten einen atomaren Rüstungswettlauf mit Japan provozieren. Den Pekinger Kommunisten bleibt also nur eines: den eigenen Einfluss auf Nordkorea ernsthaft zu testen. Das könnte das Gute an der Eskalation der Worte sein. Vielleicht bewegt sich dann mehr, als vorher denkbar war.

Japan bleibt hingegen diplomatisch nur eine Zuschauerrolle. „Ich möchte fortfahren, Nordkorea davon zu überzeugen, dass es in seinem eigenen Interesse ist, auf Nuklearwaffen zu verzichten“, sagte der japanische Regierungschef Junichiro Koizumi gestern. Auf einem ganz anderen Blatt steht, welche militärpolitischen Konsequenzen Tokio erwägt. Die Aufwertung der so genannten Selbstverteidigungsarmee zu einer regulären Truppe, die Aufhebung des Pazifismusgebots der Verfassung, der Ausbau der militärischen Allianz mit den USA – das alles wird derzeit ohnehin in Japan diskutiert und könnte durch die nordkoreanische Atomdrohung wesentlich beschleunigt werden.

Beim zweiten Hinsehen bestätigt aber dürften sich die Südkoreaner fühlen. Ihre Entspannungspolitik gegenüber dem Norden hat zwar einen derben Schlag ins Gesicht erlitten, aber sie bleibt gerade nach dem gestrigen Tag die einzig realistische Option, mit der mutmaßlichen Atommacht Nordkorea politisch umzugehen. Erst kürzlich öffnete die erste nordkoreanische Sonderwirtschaftszone entlang der innerkoreanischen Grenze. Von einem Boykott der Zone war gestern in Seoul keine Rede.

GEORG BLUME