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Archiv-Artikel

Juan Carlos schreibt Fußballgeschichte

Computerspiele sind langweilig, zeitraubend und doof. Das jedenfalls fand ich so lange, bis mich eines von ihnen überlistet hatte. Mein Befreiungskampf dauerte ein komplettes Wochenende …

VON JAN KÜHNEMUND

„Ich wünschte, ich würde mich für Tennis interessieren“, textete Dirk von Lotzow einst für seine Band Tocotronic. Nicht allzu schwierig zu kapieren sei das Spiel, meinte er, aber ist es auch spannend? Natürlich hatte er Recht. Mit Fußball geht es mir genauso.

Mit Computerspielen konnte ich bisher noch weniger als mit Fußball anfangen, nämlich überhaupt gar nichts. Zeitraubend und stumpf sind solche Spiele – eine Einschätzung, die ich bereits vor Jahren endgültig traf, ohne bis heute genau zu wissen, wovon ich rede. Bis heute, wie gesagt. Ein Freund nämlich, der um meine Abneigung gegen Computerspiele und mein eher ambivalentes Verhältnis zu Fußball weiß, schenkte mir kürzlich die Fußballsimulation „FIFA 2005“. Mein müdes Lächeln und mein kaum zu verbergendes Missfallen quittierte er mit der Aufmunterung „Du wirst es schon mögen, ansonsten gibst du es mir einfach zurück“, dann ließ er mich mit den Worten „Probier mal den Karrieremodus, der macht süchtig …“ allein.

Einige Wochen dann lag das Spiel unberührt im Stapel unbearbeiteter Papiere auf meinem Schreibtisch. Als der dann vor wenigen Tagen umzustürzen drohte – das Format der Spielhülle wirkte sich mit dem Wachsen des Stapels immer destabilisierender aus –, landete FIFA 2005 wieder ganz oben. Vielleicht war es diese Präsenz, vielleicht aber auch der Slogan „Hölle ist nur ein anderes Wort für Winterpause“ der seit Mitte Januar auf meinem Arbeitsweg von diversen Plakatwänden für die ARD-Sportschau wirbt – auf jeden Fall siegte schließlich doch mein Interesse. Ich packte das Spiel aus und installierte es. Seitdem kenne ich keinen Schlaf mehr.

Es beginnt harmlos am Freitagabend. Die Steuerung des Spiels bleibt mir sehr lange unverständlich, bis ich mein viertes Freundschaftsspiel als Arminia Bielefeld haushoch verloren habe – zu Anfang wählte ich absichtlich ein Team, das ich so langweilig finde, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass es überhaupt Fans hat. Jetzt kann ich immerhin Pässe spielen und Spieler auswechseln. Im ungefähr siebten Spiel, inzwischen – zugegebenermaßen nicht sonderlich originell – als Inter Mailand, schieße ich mein erstes Tor. Ein Elfmeter zwar, aber immerhin: Ein solcher ist ja auch nicht einfach zu bekommen, wenn man nicht weiß, welches Tastenkürzel „Schwalbe“ bedeutet.

Ich kann schießen! Ich bin bereit! Bereit für den empfohlenen Karrieremodus. Mein Freund hatte mir allerdings nicht gesagt, dass dieser auf eine Dauer von fünfzehn Spielrunden – also die fünfzehn virtuellen Jahre von 2006 bis 2021 – angelegt ist. Ziel dabei ist, sich hochzuarbeiten, vom kleinen Provinzteam zu den großen Teams dieser Welt, mit fünf goldenen Sternen in die „Fußballhistorie“ einzugehen. Durchaus faszinierende Idee, denke ich, kann ja abbrechen, wenn ich keine Lust mehr habe. Von wegen.

Ich darf mir einen Trainernamen aussuchen, ein Spanier will ich sein. Als „Juan Carlos“ starte ich also meinen Versuch, Fußballgeschichte zu schreiben, von ganz unten nach ganz oben. Und wehe, das dauert wirklich fünfzehn Jahre. Meine Karriere beginne ich in der norwegischen Tippeligaen bei Lillestrøm SK, einem Anderthalb-Sterne-Team. Dort stellen sich Mannschaften wie Viking Stavanger, Stabæk JF und FK Bodø meinem Karrierevorhaben in den Weg – leider meist sehr erfolgreich. Lillestrøm verliert ein Spiel nach dem anderen. Ab und zu erkämpfen meine Jungs ein Unentschieden, im Pokal fliege ich immerhin erst im Elfmeterschießen raus. Nach sieben Spieltagen – umgerechnet rund drei Stunden – bin ich mit drei Punkten Tabellenletzter, es beginnt zu nerven. Das Vereinspräsidium teilt mir wiederholt per E-Mail mit, dass es mit meinem Führungsstil ganz und gar nicht zufrieden ist, die Wahrscheinlichkeit meiner Weiterbeschäftigung liegt bei mickrigen vierzehn Prozent.

Je erfolgloser ich spiele, desto schlechter sind die Kommentatoren Tom Bartels und Florian König zu ertragen. Sie begleiten jedes Spiel mit „geistreichen Kommentaren“ – wie sie es herrlich selbstbewusst nennen. Anfangs hat das einen gewissen Reiz, auch wenn die Kommentare meist nicht sonderlich stimmig sind. Einen Fernschuss zu kommentieren mit den Worten „Den Elfer hat er ja total versemmelt“ oder ein Ausgleichstor in der zwanzigsten Minute mit „Das ist das Siegtor“, ist aber – zumindest eine Zeit lang – recht amüsant. Leider sind die proklamierten Siegtore nie wirklich die Siegtore, in der zweiten Halbzeit geht mein Team regelmäßig unter. Die Sätze beginnen sich aber irgendwann so penetrant zu wiederholen, dass sie bei mir Aggression auslösen. „Ein nützlicher Pass“ kommt mindestens dreimal pro Spiel, genauso „Was hat der Spieler sich dabei bloß gedacht?“ und der geistreiche Ausruf „Das ist Fußball!“ Der Halbzeitkommentar des als fachkundig angepriesenen Florian König ist eigentlich immer „Weckt mich jemand auf, wenn hier noch etwas passiert?“ oder „Wer hier mehr Tore schießt, der gewinnt.“

Je erfolgloser ich spiele, desto größer wird auch mein Ehrgeiz. Ohne einen Sieg gehe ich heute nicht ins Bett. Der Morgen graut bereits, als ich am vierzehnten Spieltag endlich den ersten Sieg hole. Zwar „nur“ gegen den danach neuen Tabellenletzten SK Brann, aber immerhin. Fest an die Wiederholbarkeit dieses grandiosen Erfolgs glaubend spiele ich natürlich weiter. Beliebter bei Fans und Präsidium werde ich aber erst, als ich merke, dass es sinnvoll ist, nicht in jedem Spiel eine rote Karte für eine Blutgrätsche von hinten einzusammeln und Aufstellung und Taktik des Teams ab und zu mal dem Gegner anzupassen.

Binnen wenigen Spieltagen werde ich zum Experten für absurde Aufstellungen (4-1-2-1-2 oder 1-9), den ersehnten Erfolg bringt allerdings erst meine gnadenlose Angriffstaktik, die ich von Spieltag neunzehn an einführe. Mittlerweile habe ich nun dreimal knapp gewonnen und immerhin sechzehn Punkte auf dem Konto. Drei Stürmer, Abseitsfalle, Pressing und lange Bälle in die Spitze – vollkommen neue Begriffe in meinem Sprachgebrauch – werden mein Geheimrezept gegen eigentlich jeden Gegner. Ariel Sundgot wird mein neuer Stürmerstar, er schießt jetzt Tor um Tor.

Der Spieltag endet für mich um halb neun morgens, kurz vor dem Saisonfinale. Noch vier Spiele sind zu spielen, und ich stehe auf Platz 10 (von 14). Mir fallen die Augen zu, langsam schleicht sich auch der Misserfolg wieder ein. Meine Hände schwitzen, die Füße sind Eisklötze, mein Rücken ist ruiniert. Die „E“-Taste meines Computers – die „Sprint“-Taste also, eine Taste, die ich mir vornehme, morgen mit einem Streichholz festzuklemmen – wackelt bedenklich. Was heißt überhaupt morgen …?

Mit höllischen Kopfschmerzen und der Frage, ob es auch eine Simulation von Frauenfußball gibt, wache ich mittags auf. Der erste Gedanke: „Ich muss das hinter mich bringen, so oder so.“ Das eine „so“ wäre die sofortige Deinstallation. Ich entscheide mich für das andere: weiterspielen, bis zum Saisonende, sage ich mir, es sind ja nur vier Spiele. Dann kann ich immer noch aufhören. Ich mache mir einen Kaffee, gewinne drei Spiele und verliere das allerletzte, bin Achter am Ende und habe damit die Präsidiumsauflage, „einen akzeptablen Tabellenplatz“ zu erreichen, meiner Meinung nach erfüllt. Trotzdem: Die Akzeptanz liegt bei nur rund 35 Prozent. Einen halben Stern von fünfen habe ich nur, wir sollten uns also trennen, beschließe ich.

Zur neuen Saison bietet mir Werder Bremen einen Arbeitsplatz, ich nehme an, die Bremer Presse jubelt, warum auch immer. Ich bekomme neue Spieler angeboten, andere werden abgeworben. Ich verkaufe Johan Micoud, weil Tom Bartels ihn immer „Mikutt“ nennt, und erwerbe Tim Wiese vom – Schweinerei! – Zweitligisten Kaiserslautern, weil der echte Bremer Torwart offensichtlich schon zu alt war und gar nicht mehr in der Aufstellung ist.

Es ist das Jahr 2007 und ansonsten ist alles wie immer. Immerhin habe ich jetzt eine Mannschaft, deren Namen die Reporter wenigstens teilweise eintrainiert haben. Ernst, Klose und Darvala gibt es, wenigstens drei von einundzwanzig. Spätestens am sechsten Spieltag – die Saison beginnt ernüchternd, ein Unentschieden nach dem anderen – kommt mir das aber schon recht kläglich vor. Da spiele ich nämlich gegen Bayern München, und dort ist wirklich alles besser. König und Bartels können alle Spielernamen aufsagen, auch die Gesichter sind echter – bei Bremen kann man nur Ismael und Klose erkennen, die andern sehen alle gleich aus – die Münchner Spieler rennen sogar schneller als andere und spielen nur genaue Pässe. Gegen Bayern gewinne ich im dritten Versuch (und dann auch nur, weil ich den Torwart dazu bringe, drei Eigentore zu schießen), Schummeln finde ich ansonsten doof, aber gegen Bayern und Leverkusen darf man ja wohl kaum verlieren.

Ich werde wieder besser. Körperlich und geistig bin ich vollkommen absorbiert, kenne keinen Schmerz und keinen Hunger mehr. Ein Spiel folgt dem anderen, die Reorganisation der Mannschaft beschränke ich auf das Nötigste, es muss vorangehen. Als mir auffällt, dass ich die Nahrungsaufnahme den gesamten Tag über vergessen habe, bin ich bereits Deutscher Meister und Pokalsieger. Die Meisterschaft gewinne ich mit einem sechs zu eins gegen Absteiger Köln, da habe ich mich längst in den Rausch gespielt. Nach zwei schnellen Brötchen verliere ich das Championsleague-Finale gegen Barcelona, und das, obwohl ich im Halbfinale sage und schreibe drei zu null auswärts gegen Arsenal London gewonnen habe. Auch Barcelona- und Arsenal-Spieler rennen viel schneller als meine Jungs und können viel tollere Tricks – Seit- und Fallrückzieher zum Beispiel, Übersteiger und Hackentricks. Ich spiele mittlerweile ohne Tom und Florian, sie wurden unerträglich.

Noch in den Abendstunden übernehme ich – mittlerweile habe ich zwei Sterne gesammelt – den FSV Mainz 05, in einem Anflug von Größenwahnsinn nehme ich mir vor, dieses kleine Team in die weiten Hallen des Weltfußballs zu führen. Kurz noch verschwende ich einen Gedanken an die Möglichkeit des sozialen Lebens (immerhin ist Samstagabend), dann tauche ich wieder ein, führe Mainz in der ersten Saison auf Platz vier, hinter Bayern, Stuttgart und Schalke.

In der zweiten Saison mit Mainz – irgendwann am Sonntagmorgen – kaufe ich mir Emre von Inter Mailand, das ist zwar skrupellos, aber er schießt so gute Freistöße und Ecken. Ich verzaubere die gesamte nationale und internationale Fußballelite mit Kopfballtoren, Fallrückziehern und ausgefallenen Dribblings. Ich gewinne mit Mainz alle Pokale, die möglich sind, und übernehme in meiner fünften Saison – schließlich – Real Madrid. Dreieinhalb Sterne stehen zu Buche, ich habe ein Team, dessen Spieler annähernd aussehen wie in Wirklichkeit, dessen Namen einen fast verruchten Klang haben: Raúl passt zu Beckham, Beckham zu Owen, der zurück zu Raúl, Ronaldo und Morientes schießen die Tore. Nur Zidane ist leider schon zu alt. Der Spielrausch erreicht seinen Höhepunkt, als ich mit Real im Jahr 2011 den Weltpokal gegen eine brasilianische Mannschaft gewinne. Ein Stern fehlt mir noch, ein verdammter Stern. Es muss weitergehen!

Wie war dein Wochenende?“, fragt mich jener Freund, der mir das Spiel Wochen zuvor geschenkt hatte, am Montagmittag. „Geht so“, sage ich, drücke ihm sein Geschenk in die Hand, „das brauche ich nicht mehr, glaube ich. Danke.“ Ich lasse ihn stehen und muss fast laut lachen. Ich habe „FIFA 2005“ am Montag früh um 2 Uhr 39 unwiderruflich von meiner Festplatte gelöscht. So fühlt sich Freiheit an.

JAN KÜHNEMUND ist Creative-Village-Absolvent und war zwei Monate taz.mag-Praktikant