Persönlichkeitszerrüttung für alle

Bildviren greifen an, doch die Satire sinnt schon auf Antwort: Schorsch Kameruns entregelte Show „Spezialmensch“ am Hamburger Schauspielhaus bemüht sich um psychische Gesundheit in den Zeiten des Reality-Fernsehens

Der tägliche Konsum von mehreren Stunden Fernsehprogramm kann bei empfindsamen Seelen wie Schorsch Kamerun den Wunsch wecken, dass ihr medizinisches Wörterbuch eine Randleiste für Sammelpunkte besitzen möge. Denn zumindest was die Geisteskrankheiten und Identitätsprobleme betrifft, gewinnt der Fernsehsüchtige schleichend die Anschauung, dass die gesamten Probleme, die er auf dem Bildschirm sieht, irgendwie auch seine eigenen sind – und deswegen wünscht er sich eine Sammelmappe, in die er all die Pschyrembel-Sammelpunkte einkleben kann: bekannte Krankheiten wie Depression, Borderline-Syndrom, Tablettensucht, Konzentrationsschwäche und Zahlenmanie gehören da ebenso hinein wie noch ungeklärte Phänomene von Persönlichkeitszerrüttung – etwa Uschi Glas, Schönheitsoperation, Neun Live und Kabbala.

Gott sei Dank gibt es aber neben der Welt der Fernbedienung auch noch das gute alte Sachbuch, und in einer aktiven Phase schafft es der multiple Psycho-Hypochonder vielleicht bis ins Zielgebiet der Intellektuellen, die Buchhandlung, in der er von Merve, Suhrkamp oder Piper mit beeindruckenden Theorien im akademischen Nominalstil bedient wird. Hat er danach die ironische Potenz aus seiner Zeit als Rockkomiker bei den Goldenen Zitronen nicht verloren, gründet er eine Spezialklinik für Selbsttherapie, in der die Angst weniger eine Frage als ein Spaß ist.

Zur Eröffnung seiner neuen Praxis „Spezialmensch“ im Malersaal des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg zeigt sich der Chef noch selbst mit Bierflasche in der Hand und lässig über die Schulter geworfenem Wams. Aber dann überlässt er die Darstellung des Therapieangebots doch seinem leitenden Angestellten Jacques Palminger, der die brutale Einfühlsamkeit eines Gesundheitsideologen mit der Verbalgelatine eines Promifriseurs zu großer Einwirkung auf die satirische Natur seiner Gäste steigern kann.

Dabei hilft ihm vor allem Fabian Hinrichs als therapeutisches Medium, der diverse Spielarten gescheiterter Problembewältigung aufführt, die das sehr ernste Thema psychischer Krankheiten von jeder Dramatik befreien. Ganz menschlich erzählt Hinrichs von seiner Zivizeit, in der er als Leiter einer geronto-psychiatrischen Altengruppe mit Schlaganfall- und Alzheimer-Patienten allein gelassen wurde. In einem Kasperletheater spielt er dann einen Menschen der deutschen Klassik auf der Suche nach Originalen, Schulschwänzern und Genies, mit denen er Nacktbaden gehen kann, und als MC Gay-Dschihad oder Teilnehmer einer Kuschelgruppe fühlt das Publikum mit ihm die großen Verwirrungen unserer Zeit.

Eine singende Qualle, ein Hase, der seinen Weg geht, und das große blaue Pappmaché-Monster des Reality-Fernsehens, das in seiner Geisterbahn Johannes B. Kerner, Franz Beckenbauer und Nena als Schrecken von Scham und Schande beschäftigt, dienen in dieser Klinik ebenso als Assistenten wie Dirk Nowitzki, Oliver Pocher, Bruno Hitler und Hillary Clinton, die den bescheuerten Schlager „Helden von gestern“ singen. Je abstruser dieser Abend sich entregelt, umso klarer wird, dass es in Schorsch Kameruns Sammelalbum absurder Scherze um eine Art Aids of Images geht. Der Angriff aggressiver Bildviren richtet sich direkt gegen die Abwehrkräfte der Vernunft; doch da wir alle längst infiziert sind, hilft nur Humor der etwas anderen Art als lebensverlängernde Maßnahme. Denn der Jargon der Analyse, den Kamerun in seinem früheren Leben als Politagitator noch selbst im Munde führte, scheint sich ihm mittlerweile ebenso selbst zu demontieren wie die sich stetig annähernde Rabulistik von Comedy und Politik. Deswegen verschränkt er etwa Filmzitate aus „Bambi“, „Sissi“ und „Bowling for Columbine“ mit konträren Synchronisationen, und wenn Romy Schneider herzallerliebst zu ihrem Papa sagt: „Weißt du, ich bin mehr traumatisiert als neurotisch“, dann erscheint Satire als goldener Weg zur psychischen Gesundheit.

Aber Vorsicht: Auch diese Show trickst mit lustigen Bildern Ihre ästhetische Immunabwehr aus und fördert nicht den Aufbau stabiler Erkenntnissätze. Dafür erfährt die Pathologisierung des Alltags mit „Spezialmensch“ eine zweistündige Verschnaufpause, und das muss doch jede Schädelsemmel wie Butter und Honig begrüßen. TILL BRIEGLEB