: Autor der Lebenslügen
VON JÜRGEN BUSCHE
Er war der Letzte, der zu einem der großen Gegensatzpaare gehörte. Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt. Albert Camus und Jean-Paul Sartre. Und eben: Tennessee Williams und Arthur Miller, der jetzt 89-jährig starb. Die Autoren sind – was Wunder bei ihrem Rang – zu unterschiedlich, als dass man zwei auch nur etwas homogene Gruppen aus ihnen bilden könnte. Gleichwohl bleibt das literaturgeschichtlich unübersehbare Faktum, dass diese Gegensatzpaare gleichzeitig auftraten, ihre Zeit hatten und mit dem Ende ihrer Zeit verschwanden. Der Gegensatz war also doch eher zeittypisch, und es kommt auf ihn an. Wahrscheinlich blitzte er am kräftigsten in der Reaktion vieler Zuschauer im Theater auf. Bei Miller, Sartre und Frisch wurden sie von dem Gefühl beherrscht: Das geht uns an. Bei Dürrenmatt, Camus und Williams mochten sie erkennen: Das geht mich an.
So verstanden, haben diese Gegensatzpaare Vorläufer in den Dramatikern Schiller und Kleist. Bei dem einen heißt es: Das muss uns beschäftigen. Bei dem anderen: Das muss mich beschäftigen. Und daher ist es kein Zufall, dass Miller in seiner Autobiografie „Zeitkurven“ die Wirkung der Uraufführung seines erfolgreichsten Stücks, „Tod eines Handlungsreisenden“, 1949 in Philadelphia mit Szenen beschreiben konnte, wie sie – nicht gerade ähnlich, aber doch gleich spektakulär – von der Uraufführung der „Räuber“ 1782 berichtet werden: „Als der Vorhang fiel, standen einige auf, zogen ihre Mäntel an und setzten sich wieder. Andere, besonders Männer saßen vorgebeugt und vergruben das Gesicht in den Händen, andere weinten unverhohlen. Zuschauer gingen quer durch das Theater, um sich mit jemandem leise zu unterhalten. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, ehe jemand daran dachte, zu applaudieren, und dann hörte der Beifall nicht mehr auf.“
Das war ein Triumph des Theaters als moralischer Anstalt. Miller hatte bis dahin etliche Stücke geschrieben, von denen „Alle meine Söhne“ bekannt geworden war, ein Entlarvungsdrama im Stile Ibsens, in dem es um einen kriminellen Kriegsgewinnler geht. Miller galt nun als linker Autor. Er bestätigte diesen Ruf durch sein Stück „Hexenjagd“, ein historisches Drama aus dem Neuengland vergangener Zeiten, aber auch eine deutliche Auseinandersetzung mit der Kommunistenjagd der McCarthy-Ära in den Fünfzigerjahren. Da der Autor selbst ins Kreuzfeuer der neuen Inquisition geriet und sich (wie auch Dashiell Hammett) mutig den fanatischen Kämpfern gegen vermeintlich unamerikanische Aktivitäten widersetzte, war er fortan eine moralische Autorität. Seiner schriftstellerischen Arbeit hat das nicht gut getan.
Man kann die Beobachtung machen, dass die meisten erstrangigen Dramatiker ihre besten Stücke in jungen Jahren geschrieben haben. Man mag das darauf zurückführen, dass in diesem Lebensalter die Fähigkeit zur Empörung noch sehr lebendig ist. Später legt sich das. Und Abgeklärtheit gar ist für dramatische Kunst nicht von Vorteil. Eine moralische Autorität, die, ohne es zu wollen, dem Betrachter immer wieder den Blick auf die großen, zurückliegenden Leistungen aufzwingt, ist rasch vor allem das: Autorität. Und Autorität verträgt sich ebenfalls nicht mit Empörung. So waren Millers spätere Stücke von dem Ruhm ihres Autors angekränkelt; Dürrenmatt erging es nicht anders.
Es hätte der Dramatiker Arthur Miller seit langem vergessen sein können, eine gern zitierte Reminiszenz allenfalls für Historiker des 20. Jahrhunderts, die ihre Werke mit literarisch-zeitgenössischen Hinweisen zu garnieren lieben, wenn nicht das größte Drama auf dem Komödienstadl des Menschlichen in jenen Tagen dem Erfolgreichen eine Hauptrolle zugewiesen hätte: Arthur Miller, der Sohn polnisch-jüdischer Einwanderer, dessen Eltern erst zu Reichtum gekommen, dann aber infolge der Wirtschaftskrise von 1949 verarmt waren, heiratete den Filmstar Marilyn Monroe.
Das war eine Sensation. Der Dramatiker mochte bald erkannt haben, dass das der Entwurf auch für eine Tragödie war. Doch damit bekam er seine eigene Geschichte und die seiner Frau in die falsche Perspektive. Die richtige Sichtweise zu akzeptieren, dazu war der Intellektuelle nicht geschaffen. Es erging ihm da wie dem Schauspieler Sir Lawrence Olivier, der für den Film „Der Prinz und die Tänzerin“ mit der Monroe zusammenzuarbeiten hatte und sich im Glanz seines Ruhms über diese Frau abfällig äußerte. Aber Film ist Film, und in der Perspektive der Kamera spielte Marilyn Monroe ganz traditionell den legendären Mimen an die Wand. Und ein Millionenpublikum bekam es zu sehen. In der Ehe von Marilyn Monroe und Arthur Miller stellte die bloße Tatsache dieser Verbindung von Star mit Weltgeltung und brillantem Schriftsteller jede Geschichte dazu in den Schatten, bevor sie auch nur angedacht werden konnte.
Miller versuchte durch Arbeit, die beide konnten, Gemeinsames zu schaffen. Er schrieb das Drehbuch für den Film „Nicht gesellschaftsfähig“. Es ist ein wunderbares Buch, immer noch lesenswert und literarisch sein letzter Erfolg. Aber der Film war eine Sache von Marilyn Monroe und Clark Gable. Die Filmleute bildeten bei den Dreharbeiten eine Welt für sich, und in dieser Welt hätte Miller ebenso gut der Mann sein können, der für Frau Monroe die Locken richtet und peinlicherweise zugleich ihr Ehemann ist. Die Frau des Dichters wirkte den ganzen Film über etwas unglücklich – auch das entging der Kamera nicht. Die Sache erinnert an eine Stelle bei Edmund Crispin, wo ein ganzes Filmteam wären der Arbeit an einem historischen Streifen den als Berater engagierten Oxford-Professor nicht mehr zur Kenntnis nimmt, weil dieser einmal den Geburtstag der Queen Anne nicht wusste. Miller lernte bei den Dreharbeiten die Fotografin Inge Morath kennen, heiratete sie später und lebte mit ihr Jahrzehnte glücklich zusammen.
Aber da stand sein Image als der Mann, der die Monroe geheiratet hatte, schon fest. Marilyn Monroe war ein Mythos, erst recht nach ihrem frühen Tod 1962. Miller hätte der erste Schriftsteller sein müssen, der stärker war als ein Mythos. Und das war er nicht.
Aber er war der Schriftsteller, dem es gelungen war, eine für seine Zeit repräsentative Figur für die Bühne zu schaffen: den Handlungsreisenden Willy Loman. Diese Inkarnation der Lebenslüge, ein Mann, der in der liberalistisch-kapitalistischen Welt ein Täter zu sein glaubt und doch ein Opfer ist, begleitete den Autor wie Beckett „Warten auf Godot“ und Remarque „Im Westen nichts Neues“. Das kann ein Unglück für einen Schriftsteller sein, aber um es als Unglück zu empfinden, dafür war Miller die gesellschaftspolitische Aufklärungsarbeit, die er mit seinem besten Schauspiel geleistet hatte, zu wichtig. Sie hatte er ernst genommen, und der andauernde Erfolg des Stücks war ihm hierin Bestätigung.
Vielleicht aber doch nicht nur hierin. Willy Loman gehört nicht nur der Zeit an, für die ihn Miller ins Drama brachte. Möglich, dass nur oder erst diese Zeit ihn so auffinden konnte. Aber Loman ist – ähnlich wie Brick in „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ von Tennessee Williams – ein Held des Theaters, wie er immer wieder die besten Schauspieler anzieht, weil sie darin das Einmalige und zugleich Beispielhafte der Figur spüren: Schau hin, ein Mensch! So funktionieren Lear und der Dorfrichter Adam und Dürrenmatts Alte Dame, so – gegen das Programm des Dichters – Mutter Courage, und so ergeht es uns auch mit Willy Loman: Sie alle rühren uns auf unterschiedliche Weise, aber sie lassen uns eher an ihrem Schicksal teilnehmen, als dass wir uns zu Richtern über ihr Leben aufschwingen wollten. Wir stehen vor Bildern, in denen wir uns selbst erkennen – aber eben: wir uns, Menschen, die miteinander zu tun haben.
Miller – bei dem, was die breiteste Öffentlichkeit für das Wichtigste in seiner Lebensgeschichte hält, kaum verwunderlich – wünschte sich, dass man sich seiner dermaleinst als eines Dramatikers erinnern möge. Es sind nicht wenige, die bezweifeln, dass dies der Fall sein wird. Es ist schwierig, über das Fortleben von Bühnenwerken zu urteilen. Aber Arthur Miller hat für die Zukunft seines Namens in der Welt des Theaters einen starken Verbündeten. Das ist der exzellente Schauspieler, der das Alter hat, den Loman zu spielen. Schauspieler, die berechtigterweise jede Gelegenheit bekommen wollen, zu zeigen, was sie können, werden immer wieder Intendanten und Regisseure veranlassen, den „Tod des Handlungsreisenden“ auf den Spielplan zu setzen. Das Publikum wird es ihnen danken, so oft das geschieht. Und der Autor, wenn er denn könnte, auch.