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Archiv-Artikel

Ein Grund zum Feiern

Morgen tritt das Kioto-Protokoll in Kraft, mit dem die Erderwärmung gestoppt werden soll. Die festgelegten Ziele reichen nicht aus – aber sie sind immerhin ein Anfang

Es geht nicht nur um Umwelt – Klimaschutz steht hier für ein völlig neues Politikfeld

Das Kioto-Protokoll, mit dem die über einhundert Unterzeichnernationen das Klima der Erde schützen wollen, ist ein Sieg des multilateralen Charakters der Vereinten Nationen, der Interessengemeinschaft aller Staaten über die Partikularität von Einzelinteressen. Morgen tritt das Abkommen in Kraft. Wegweisend für Verhandlungen über die Zukunft bleibt, dass es die beiden kleinen Länder Belgien und Schweden waren, unter deren EU-Präsidentschaft 2001 das Kioto-Protokoll gerettet worden ist. Nachdem US-Präsident George W. Bush sich aus Kioto verabschiedet hatte, dachten viele: So, das war’s. Doch zusammen mit der Gruppe der Entwicklungsländer, der G 77, gelang der EU die Einigung über viele Einzelfragen.

Inzwischen ist das Kioto-Protokoll von mehr als 100 Nationen ratifiziert worden. Man mag spekulieren, warum die USA sich so vehement weigern, Teil dieses neuen internationalen Politikfeldes zu werden. Kioto steht in den US-Regierungskreisen auf einer Linie mit der Ablehnung weiterer internationaler Vertragswerke der UNO, wie etwa des Internationalen Strafgerichtshofs. Auf der anderen Seite ist es mehr als wahrscheinlich, dass die USA an den Tisch zurückkehren, wenn der interne Irrationalismus besiegt wird und moderne Kräfte aus Wirtschaft und Politik die Lufthoheit in Washington erobern. In der Zwischenzeit sollten die Kioto-Länder nicht Zeit damit verplempern, die Bush-Administration auf eine Party einzuladen, an der sie nicht teilnehmen will.

Aufgabe der EU wird es sein, in den nächsten Jahren mit den wichtigsten Partnern aus OECD und Entwicklungsländern das Kioto-Protokoll weiter zu entwickeln, neue Klimaschutzziele unter Einbeziehung der rasch wachsenden Entwicklungsländer wie Korea, Mexiko, Brasilien, Malaysia, aber auch China, Argentinien und Indien zu gestalten. Selbstredend müssen auch die Ziele der Industrieländer deutlich angehoben werden. Wie das geschehen könnte, wurde bereits vorgemacht

Kioto ist das wohl komplizierteste und umfassendste UN-Vertragsrecht im Umweltbereich. Und das wohl am stärksten diskutierte sowieso. Zum ersten Mal werden in einem UN-Vertragstext gesetzlich verbindliche Umweltziele festgelegt. Bei Nichteinhaltung drohen zwar keine Grünhelme mit Intervention, aber es sind doch vergleichbar anspruchsvolle rechtliche Konsequenzen vorgesehen.

Kohlenstoff etwa hat von nun an einen Marktpreis. Die Erdatmosphäre kann nicht mehr ganz zum Nulltarif vermüllt werden. Zwar ist es ein geringer Preis zum Anfang, aber das wird sich ändern mit der Zeit, mit neuen Klimazielen. Von jetzt an gilt: Kohle wird nie mehr so billig sein wie heute. Und das ist wichtig, weil etwa die Hälfte aller Kraftwerke im Europa der 25 Nationen allein aus Altersgründen in der nächsten Dekade erneuert werden. Da Kraftwerke etwa 40 Jahre am Netz bleiben, muss jede Entscheidung eines Stromkonzerns die möglichen finanziellen Lasten einer Entscheidung zu Gunsten der Kohle berücksichtigen.

Kioto ist der Einstieg in die völlige Umgestaltung der Energiewirtschaft, ja der industriellen Welt. Wir sollten uns keinerlei Illusionen darüber hingeben, dass dieses harte Grabenkämpfe mit der konventionellen Energiewirtschaft zur Folge haben wird. Mit fossilen Brennstoffen werden etwa insgesamt etwa 5 bis 10 Prozent des weltweiten Bruttosozialproduktes erwirtschaftet. Um das auszuhebeln, muss noch viel geschehen – trotz der schönen Erfolge um die erneuerbaren Energien gerade in Deutschland.

Das Kioto-Protokoll geht über klassische Umweltpolitik aber weit hinaus. Klimaschutz steht hier für ein völlig neues Politikfeld. Wenn auch in vielen Fällen nur embryonisch oder isoliert, so haben doch die meisten Regierungen erkannt, dass mit den bisherigen Kioto-Zielen wirklicher Klimaschutz nicht gewährleistet werden kann – vor allem, wenn die USA sich nicht beteiligen. Die Ziele sind immens wichtig als erster Schritt, aber zu wenig, um Inselstaaten vorm Ertrinken zu retten. Wenn auch bei Regierungen umstritten bleibt, wer wann was machen muss, ist die prinzipielle Einigung, dass umgesteuert werden muss, doch zunehmend verankert. Und guter Klimaschutz ist zudem gleichzeitig Technologie-, Finanz-, Sozial-, Gesundheits-, Infrastruktur- und Landwirtschaftspolitik.

Sicher, der rasche Ausbau von Energiegewinnung durch Wind, Biomasse und Sonne sowie der massive Einstieg in die industrielle Fertigung von energiesparenden Geräten, Häusern und Autos bleibt genauso notwendig wie der weltweite Abbau von mehr als 200 Milliarden Euro jährlich, die laut UN als Subventionen vor allem an Kohle und Öl gezahlt werden. Klimaschutz verlangt verstärkte Investitionen in die Anpassung an den Klimawandel.

Wenn das Grönlandeis weiter so rasch schmilzt und der Schaden, den Gase wie Aerosole in der Atmosphäre anrichten, weiter unterschätzt wird, erhöht sich der globale Meeresspiegel nach neuesten Erkenntnissen nicht nur um 1, sondern um 6 Meter. Und die globale Temperatur stiege nicht um bis zu 6, sondern bis zu 10 Grad. Weltweit leben etwa 100 Millionen Menschen, vor allem ärmere in den Entwicklungsländern, in der Reichweite von 1 Meter Meeresspiegelanstieg. Und es sind weitaus mehr, die in Reichweite von 6 Metern leben.

Es geht nicht nur darum, höhere Deiche zu bauen. Nötig ist eine funktionierende Siedlungspolitik, die Menschen aus den küstennahen Slums und Elendsvierteln in menschenwürdige, sturmflutsichere Quartiere umsiedelt. Eine Gesundheitspolitik, die sich der Ausrottung von Malaria und anderen tropischen Krankheiten, die durch die globale Erwärmung zunehmen werden, genauso verschreibt wie der vorsorgenden sozialen Wiedereingliederung von älteren und vereinsamten Menschen in Europa, wie sie vor allem der Hitzewelle 2003 zum Opfer fielen. Eine Landwirtschafts- und Forstpolitik, die auf breite heimische Artenvielfalt und effiziente Wassernutzung setzt statt auf Gentechnik und Monokultur. Und das alles natürlich im internationalen Maßstab, weil viele arme Länder keine ausreichende Finanzierung dafür besitzen. Und wäre es nicht für den Klimaschutz – es macht in jedem Falle Sinn.

Kioto ist das wohl komplizierteste und umfassendste UN-Vertragsrecht im Umweltbereich

Wenn die Welt unter 2 Grad globaler Temperaturerhöhung bleiben soll, wie wir und die EU das fordern, um biblische Katastrophen zu verhindern, und wenn gleichzeitig die notwendige Anpassung an den Klimawandel, der bereits ins System injiziert wurde, kostengünstig und vor allem gerecht gestaltet werden soll, gibt es zu diesem neuen globalen Politikfeld Kimaschutz im Rahmen der Vereinten Nationen keine Alternative.

Zu dieser neuen kombinierten Sicherheits-, Außen-, Umweltschutz- und Sozialpolitik sind wir durch Kioto gekommen. Vieles steckt noch in den Kinderschuhen, aber dass dieser Zuwachs an globaler Verantwortlichkeit möglich war, ist auch ein Grund zum Feiern.

STEPHAN SINGER