: Ein Ständchen
VON CHRISTIAN SEMLER
Mal in weiter Distanz, mal in großer Annäherung, so umkreisen wir kleinsten Himmelspartikel auf unserer elliptischen Bahn den Fixstern Jürgen Habermas. Wie die großen Aufklärer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat Habermas am sanften Anspruch der Vernunft festgehalten, die sich – in verständigungsorientierten Diskursen – im Medium der Öffentlichkeit Bahn bricht. Das ist die Grundmelodie vom großen Erstlingswerk „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ bis zu den späten Schriften zur Ethik und Religion.
Habermas ist, auch hier den Aufklärungsphilosophen gleichend, ein eminent politischer Intellektueller, Stratege im Meinungskampf, zielsicher in der Wahl der Gegner wie der Verbündeten. Dabei sind seine politischen Interventionen seinem theoretischen Denken nicht äußerlich. Sie folgen den Prämissen seiner Philosophie des kommunikativen Handelns, allerdings auf eher vermittelte Weise …
Das Problem der Linken war oft eine zu enge Verknüpfung von theoretischer Einsicht und Praxis, die Überanstrengung des Willens, die Durchbruchsmentalität. Habermas sind diese Wesenszüge fremd, er besteht auf der Eigenständigkeit theoretischer Arbeit – und auf unablässigem Argumentieren. Allerdings musste er sich schon den in den Achtzigerjahren die Frage gefallen lassen, welche Schlüsse überhaupt aus seiner Analyse des gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustands zu ziehen sind. Was folgte beispielsweise aus seiner These, dass die Lebenswelt in Gefahr steht, von den Kommunikationsmedien Macht und Geld kolonialisiert zu werden? Ist es der Anspruch der Vernunft, verkörpert in gesellschaftlichen Lernprozessen und politisch artikuliert in Bürgerbewegungen, der zur Verständigung der Streitparteien führen wird? Die Frontenbildungen in der gegenwärtigen Krise sprechen eine andere Sprache. Nicht Dialog, sondern Antagonismus ist angesagt.
Die demokratischen Revolutionen in Osteuropa und der DDR zeigten für Habermas kein innovatives Potenzial, sie waren „rückspulend“, nur darauf gerichtet, nachholend den demokratischen Rechtsstaat zu errichten. Das hat diejenigen Linken, die sich mit den osteuropäischen Freiheitsbewegungen solidarisiert hatten, ziemlich irritiert. Sie sahen im Projekt der „Selbstverwalteten Republik“, wie es von Solidarność 1981 beschlossen wurde, eine über die westliche Verfassungswirklichkeit hinausweisende, „dritte“ Idee. Gegenüber solchen Hoffnungen hat Habermas recht behalten. Allerdings sind die vormals sozialistischen Länder heute weit davon entfernt, den Habermas’schen demokratisch-rechtsstaatlichen Idealen zu folgen.
War Habermas 1990 Realist, so zeigt sich heute in seiner Analyse der Weltgesellschaft, der Zukunft der internationalen Beziehungen und der Aufgaben der Europäischen Union ein hoffnungsvoller, ansteckender Optimismus. Habermas überträgt seine alte Frage „Können Kollektive ein vernünftiges Selbstbewusstsein entwickeln“ auf Europa. Er spricht von einem Prozess sich gegenseitig stützender Antizipationen, Vorgriffe auf eine gemeinsame europäische Identität, die sich nicht selbst genügt, sondern eine globale, befriedete Ordnung zum Ziel hat. Sicher, die Realität der Staatenbeziehungen sieht heute ganz anders aus. Aber könnten sich Organisationen wie Attac, könnten sich Zeitungen wie Le Monde diplomatique nicht als Habermas’sche „Antizipationen“ begreifen – und sich dem Glückwunschchor für den Jubilar anschließen? Bestimmt tun sie es.
CHRISTIAN SEMLER, 70, ist das zeitgeschichtliche Gedächtnis der taz