Wunderschöner Geist

VON MICHAEL RUTSCHKY

Damals musste man sich zum Ende des Semesters beim Herrn Professor ein Testat im Studienbuch abholen, dass man seine Vorlesung, sein Seminar tatsächlich besucht hatte. Während vergessene Germanisten namens Burger oder Stöcklein einen richtigen Friedrich Wilhelm leisteten, testierte der neue Mann mit einem Kürzel. Im Semester darauf – 1964/65 – war die Testatpflicht abgeschafft.

Aus Heidelberg komme er, hieß es, unterhalte zugleich Beziehungen zu Marburg, dem verlässlich linken Wolfgang Abendroth, während das Verhältnis zu Horkheimer/Adorno, die er doch beerben sollte, rätselhaft gestört sei. Unsereins, die Studenten, erfreute angesichts seiner grauen Haare – er war 35 – die Ähnlichkeit mit Walter Benjamin. Der Sprachfehler war ehrfurchtgebietend. Zumal der elegante und selbstsichere Mann unglaublich cool (damals sagte man: lässig) damit umging: Man möge ihn umgehend ans Mikrofon zurückbeordern, wenn er ins Extemporieren gerate und auf dem Podium auf und ab schreite. So etwas macht den Jungmenschen fassungslos.

Zu lesen gab es damals den schon legendären Band „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962) sowie den Aufsatzband „Theorie und Praxis“ (1963), der unerschrocken ein Zentralthema der linken Diskussion anging (viel Theorie, wenig Praxis, lax gesagt). „Zur Logik der Sozialwissenschaften“, das man unter höchstem Erwartungsdruck studierte, versteckte sich als Beiheft der Philosophischen Rundschau, und 1968 war endlich „Erkenntnis und Interesse“ da – die Hitze der Diskussionen, welche das Kapitel über Sigmund Freud auslöste, ist kaum noch vorstellbar. Theorie war halt hip, und der Inbegriff des Theoretikers hieß Jürgen Habermas. Dass seine Schriften stets als streng und eng geführte Diskussion unzähliger anderer Schriften – die man unmöglich nachlesen konnte – sich entfalteten, änderte daran nichts. Aber es wird verständlicher, weshalb danach Nietzsches Schriften ein solches Comeback erlebten: Sie kann man gleichsam freihändig lesen.

Und dann kamen die vielen Zeitungsartikel und Zeitschriftenaufsätze hinzu, die Beiträge zur öffentlichen Diskussion. Wer die in „Protestbewegung und Hochschulreform“ (1969) heute nachliest, erkennt sie rasch als das Allervernünftigste, was damals im Hinblick auf die Revolte zu projektieren war. Und während Enzensberger, der narzisstische Literat, vor allem sich selbst inszenierte in abrupten Gesten und unerwarteten Wendungen, kämpfte Habermas seine Argumente unverdrossen mit den aufgeregten Jungmenschen und den besorgten Liberalen durch und bewirkte einen Strukturwandel der Öffentlichkeit, der seitdem anhält.

Die öffentliche Diskussion, so kam es im Lauf der Jahre heraus, das war die Einheit von Theorie und Praxis, welche die Linke Anfang der Sechziger so verzweifelt und ohnmächtig begrübelt hatte. Dabei erlaubte sich Habermas zuweilen eine Härte und Schärfe der Polemik, die an das Freund-Feind-Schema des bösen Carl Schmitt gemahnte – macht aber nichts; Schmitt hatte ja nicht Diskussion, sondern Entscheidung und/oder Krieg propagiert, und darauf verfiel Habermas nicht einmal in Zuständen höchster Empörung.

Dass ein Theoretiker von so unglaublicher Kenntnis und Weitsicht seit den Sechzigerjahren zu einem wahren Praeceptor Germaniae sich entwickeln sollte, das war den finsteren Erfindern Germaniens vollständig verhüllt. Und er ist ja zugleich ein richtiger Weltweiser geworden. Grund genug, uns selber zu beglückwünschen.

MICHAEL RUTSCHKY, 66, Schriftsteller („Wie wir Amerikaner wurden. Eine deutsche Entwicklungsgeschichte“, 2004), lebt in Berlin