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Archiv-Artikel

Das Paradies des Diskurses

VON NORBERT BOLZ

Der sagenhafte Erfolg, den die Werke von Jürgen Habermas mehr als drei Jahrzehnte lang hatten, verdankt sich zunächst einmal der Tatsache, dass er die deutschen Linksintellektuellen aus dem Jammertal der negativen Dialektik Theodor Adornos herausgeführt hat. Aber es gibt noch einen zweiten, wichtigeren Grund. Den Gebildeten unter den Verächtern der Religion bot Habermas genau das: eine Religion. Das Angebot war für viele deshalb unwiderstehlich, weil es nach dem Gegenteil aussah, nämlich nach Aufklärung.

Sehen wir näher zu. Die Religion der kommunikativen Vernunft hat zwei Quellen: den jungen Hegel und das alte Testament. Die Rückkehr zum jungen Hegel und den Junghegelianern markiert den Ansatzpunkt für ein philosophisches Projekt der Moderne, das aus der Sackgasse des Negativismus herausführen soll. Für Habermas ist der Diskurs der Moderne vor 200 Jahren fehlgeleitet worden – und er will das korrigieren.

Das ist das Entscheidende: Habermas rekonstruiert nicht die moderne Philosophie, sondern er erzählt die Geschichte einer versäumten Option. Zurück zum jungen Hegel und seiner „Liebe“, zu Schiller und seiner „schönen Mitteilung“, zum jungen Marx und seiner „freien Assoziation“! Damit verlieren die Grundbegriffe der Kritischen Theorie ihren Verzweiflungston. Entfremdung heißt jetzt „verzerrte Kommunikation“, und Versöhnung heißt jetzt Konsens. Das Wirkliche ist vernünftig genau in dem Maße, als es Schauplatz kommunikativen Handelns ist. Und das Vernünftige ist wirklich im kritischen Verfahren.

Der Diskurs der Moderne hat also „die falsche Richtung genommen“ und Habermas korrigiert das mit einem Gegendiskurs, der von der Kraft des „Kontrafaktischen“ lebt. So weit, so gut. Doch diese Zukunftshermeneutik alleine hätte nicht genügt, Habermas zum konkurrenzlosen Vordenker der Nachkriegszeit zu machen. Seine spröde Sprache täuscht leicht darüber hinweg, dass auch dieses philosophische Projekt der Moderne einen theologischen Glutkern hat.

Doch manchmal spricht Habermas auch Klartext. Sein Schlüsselmotiv eines wahrheitsstiftenden Konsenses geht ausdrücklich auf die jüdische Bundesidee zurück. Die Bundesgenossenschaft Jahwes mit seinem Volk ist die Urzelle der Kommunikationsgemeinschaft. Ausdrücklich heißt es, der philosophische Diskurs der Moderne habe nur ein einziges Thema, nämlich das „Bedürfnis nach einem Äquivalent für die vereinigende Macht der Religion“. Vernunft soll das Pensum der Religion übernehmen, Versöhnung und Transzendenz sollen in Argumentation übersetzt werden. Die Theorie des kommunikativen Handelns steht und fällt also mit dem massiven Säkularisierungskonzept einer „Versprachlichung des Sakralen“. Die Autorität des Heiligen wird durch die Autorität des Konsenses umbesetzt.

So gelangen wir ins Paradies des Diskurses, in dem die Rede von Macht und Begehren gereinigt ist, die Beteiligten in solidarischer Wahrheitssuche nur dem sanften Zwang des besseren Arguments folgen und jede eigene Meinung vor dem Konsens glücklich abdankt. Im Paradies des Diskurses gibt es keine Entscheidungen, sondern nur Argumentationen; keine Machtfragen, sondern nur Begründungsprobleme. Das war Habermasens frohe Botschaft für deutsche Linksintellektuelle. Heute überlebt sie nur noch in einigen Redaktionsstuben und Provinzuniversitäten. Für uns andere gilt: Felix Culpa! Gut, dass wir auch aus diesem Paradies vertrieben worden sind – und wieder arbeiten können.

NORBERT BOLZ, 56, Medien- und Kommunikationswissenschaftler, ist Professor an der TU in Berlin